In der Außenpolitik muss Indien sozusagen zwei Pferde gleichzeitig reiten. Eins davon ist die „Indische Union“, um den vollständigen Namen der indischen Föderation zu zitieren, der in der Verfassung genannt wird. Das andere „Pferd“ ist kollektiver Art: es repräsentiert die Mitgliedsstaaten der Föderation. Das erste der beiden Pferde drängt zur Einheit, das andere aber – ein Föderalist – hat ebenfalls begonnen, eigene Forderungen zu stellen.

Beide Pferde ergänzen ihre Kräfte nur dann, wenn sie in dieselbe Richtung ziehen. Gelegentlich ist dies jedoch nicht der Fall, was in zahlreichen Aspekten der öffentlichen Angelegenheiten Indiens, darunter der Außenpolitik, Konflikte verursachen kann. Dies hat sich besonders in den vergangenen Wochen gezeigt. Die Schwierigkeiten begannen mit dem Besuch des Königs eines nördlichen Nachbarn Indiens – des Königreiches Nepal – in Neu Delhi, und setzten sich mit Indiens Beziehungen mit dem südlichen Nachbarn Sri Lanka fort.

Diese Geschichte berührt mehrere komplexe Schwerpunkte. Der relevanteste davon ist, dass sowohl der Föderalismus als auch die Demokratie schneller als Indiens Expertise im Beherrschen beider Entwicklungsformen galoppieren. Die Föderationsmitglieder beharren immer intensiver auf ihren Rechten, während sich die Parteien auf Ebene der Staaten in der Hitze des indischen Wahlkampfes mit seinen 600 Millionen Wählern profilieren.

Regionale Vorherrschaft und weitverbreiteter Irredentismus

Bei diesen Problemen einer stark demokratischen Föderation spielt besonders die Geographie Südasiens eine Rolle. Wichtig sind auch die kulturelle Landschaft in Südasien sowie die Geschichte, die diese Landschaft geschaffen hat. Indien nimmt etwa drei Viertel der Fläche und Bevölkerung der SAARC ein - der Südasiatischen Vereinigung für Regionale Zusammenarbeit. Diese Organisation ist die einzige, regionsübergreifende politischfunktionale Organisation der Region mit der Größe eines Kontinents, welche die wichtigen Seewege dominiert, die die Golfregion in Westasien mit den Hauptwirtschaftszentren Ostasiens verbindet.

Jedes Mitglied der SAARC hat eine gemeinsame Land- oder Seegrenze mit Indien, aber kein SAARC-Mitglied hat eine Grenze mit einem anderen Mitglied. Dadurch wird Indien in der SAARC zu einem geographischen Zentrum, das zusätzlich durch die Größe des Landes definiert wird. Hinsichtlich der Landmasse und der Bevölkerung ist Indien mindestens sechsmal größer als der nächste seiner SAARC-Nachbarn und um ein Mehrfaches größer als die meisten seiner kleineren Nachbarn. In ähnlicher Weise kann die Größe der Volkswirtschaft und des Militärs Indiens mit denen seiner Nachbarn verglichen werden. All diese regionalen Charakteristiken müssen beim Bestimmen des außenpolitischen Kurses der indischen Föderation berücksichtigt werden.

Die gesamte Nachbarschaft Indiens ist ein idealer Nährboden für territoriale Ansprüche. Diese können sich für die Außenpolitik eines jeden Landes als trickreich erweisen, sind aber aus zwei Gründen um so schwieriger für Indien:

Erstens sind die Grenzgebiete beidseitig vieler Grenzlinien von einer empfindlichen und emotionsgeladenen Problematik geprägt.

Als sich ein Teil von Indien loslöste, um das heutige Pakistan zu gründen, emigrierten mehrere Millionen Sikhs nach

Federations Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002

Indien. Viele ihrer heiligsten Stätten blieben jedoch in Pakistan. Eine große Zahl von Muslimen wanderte aus den Ebenen Nordindiens aus, die vom Ganges-Fluss bewässert werden – dem heiligsten Gewässer der Hindus. Die schönsten Blüten der muslimischen Kultur jedoch, wie das weltberühmte Taj Mahal und das Muslim-Antlitz von Delhi sowie der Schrein eines muslimischen Heiligen, der von mehr südostasiatischen Muslims als Mekka in Saudi Arabien besucht wird, blieben in Indien.

Die Tamilen in Sri Lanka behaupten, dass sie die wahren Erben der tamilischen Kultur sind, und nicht die Tamilen in Indiens Tamil Nadu. Die Bengalen in Indiens West-Bengal trauern um den Verlust Bangladeshs, das von den Bengalen auf beiden Seiten als Geburtsstätte der bengalischen Kultur betrachtet wird. Daher sieht keine der Seiten im umstrittenen Territorium beidseitig der Grenzen ein bloßes Stück Land.

Zweitens ist Indien eine Föderation, was uns zu den am Anfang erwähnten „zwei Pferden“ zurückbringt.

Der Hauptaktionär in dieser Politik ist die Union Indiens, die davon überzeugt ist, dass die gesamte Autorität für Indiens Außenpolitik der Union zusteht und in der nationalen Hauptstadt Neu Delhi residiert. In seinen Beziehungen mit anderen Ländern ist Indiens Souveränität genauso unteilbar, wie sie es im Falle eines geeinigten Staates wäre.

Da ist jedoch noch das zweite Pferd – mit den stetig wachsenden Forderungen, dass ein föderaler Staat ein Mitspracherecht in Indiens Beziehungen mit einem auswärtigen Nachbarn hat, mit dem er eine Grenze teilt.

Dieser Anspruch ist berechtigt, da es der irredentistische Hintergrund weitgehend unvermeidbar macht, dass ein Aufstand auf einer Seite des Grenzgebietes auf die andere Seite übergreift. Diese Ansprüche werden mit immer stärkerem Druck erhoben, da sich Demokratie und Föderalismus in Indien intensiver entwickeln und sich andererseits die Parteien auf Ebene der Staaten vermehren. Diese haben dazu geführt, dass Einparteienregierungen im föderalen Zentrum Platz für Mehrparteien-Koalitionen gemacht und damit Staatsparteien eine größere Rolle eingeräumt haben – nicht nur beim Regieren der Staaten, sondern auch des Zentrums.

Dies sollte nicht mit einer separatistischen Theorie verwechselt werden. So ist Indien heute sogar weniger vom Separatismus betroffen als in den über 50 Jahren seiner Geschichte als unabhängiges Land. Zwischenwirkungen und Abhängigkeiten zwischen dem Zentrum und den Staaten sowie zwischen den Staaten untereinander sind ebenfalls ausgeprägter als je zuvor. Die Fäden des Austausches zwischen Regierungen aller Ebenen überziehen das Land in immer größerem Maße.

In seinen Beziehungen mit den Nachbarländern muss sich Indien jedoch intensiver mit den Ansichten der indischen Staaten befassen, die sich mit anderen Ländern eine Grenze teilen. Dies trifft besonders auf Fälle zu, in denen die betroffenen Verantwortlichkeiten in Übereinstimmung mit Indiens föderaler Verfassung geteilt oder gemeinsam wahrgenommen werden (siehe Kasten).

Maoisten in Nepal

Als der König von Nepal in der letzten Juniwoche 2002 im Rahmen seines ersten Staatsbesuches seit seiner Machtübernahme nach Neu Delhi kam, war der wichtigste Schwerpunkt der Tagesordnung die interne Sicherheit seines Königreiches, das in jüngster Zeit von einer ernst zu nehmenden Rebellion bewaffneter radikaler Extremistengruppen heimgesucht wurde, die sich „Maoisten“ nennen.

Diese extremistischen Gruppen haben sich bereits in mehreren Kämpfen erfolgreich mit der Polizei des Königs und selbst mit der Armee angelegt. Indien ist besorgt über diese Situation und hat sich zu uneingeschränkter Hilfe bereit erklärt, wie bereits in den vergangenen fünf Monaten. Diese Angelegenheit fällt deutlich in den Verantwortungsbereich der Regierung der Union Indiens.

Nun wurden jedoch auch die föderalen Staaten mit einbezogen, und zwar durch das Auftreten weiterer Gruppen, die ebenfalls als Maoisten bekannt sind und vom Maoistisch-Kommunistischen Zentrum angeführt werden. Diese treiben sich in der Wildnis des Staates Bihar um, der an Nepal angrenzt. Beidseitig dieser Grenze leben die gleichen Bevölkerungsgruppen, und beide Seiten leiden unter bewaffneten Konflikten zwischen Landbesitzern und Landlosen. Die Maoisten einer jeden Seite werden verdächtigt, mit der jeweils anderen Gruppe auf der anderen Seite gemeinsame Sache zu machen.

Die Regierungen beider Länder haben großes Interesse daran, dieses Problem beizulegen. Indien jedoch muss zunächst ein föderales Problem überwinden. Die Verfassung legt die äußere Sicherheit Indiens klar als Angelegenheit der Unionsregierung fest. Interne Angelegenheiten sowie Rechts- und Landbesitzangelegenheiten fallen jedoch in den Verantwortungsbereich der föderalen Staaten.

Die Unionsregierung kann die Regierung Bihars nur bis zu einem gewissen Grad drängen – eine Beschränkung, deren Verständnis dem König von Nepal gewisse Schwierigkeiten bereitet. Die Verfassung erlaubt der Union, ihre Autorität über einen Staat zeitweilig auszudehnen, indem sie aufgrund ihrer Machtbefugnisse einen „Notstand“ erklärt. Die Union hat dieses Machtbefugnis in der Vergangenheit gelegentlich gebraucht und auch missbraucht, als im Zentrum und in der Mehrzahl der Staaten noch ein und dieselbe Partei herrschte – wie dies fast 40 Jahre lang der Fall war. Nun allerdings ist die Union bei dieser Durchsetzung dieser Macht vorsichtiger geworden.

Die Tamilen Indiens und die Beziehungen mit Sri Lanka

Indien geht heute wesentlich vorsichtiger mit den Bedürfnissen und Empfindlichkeiten Sri Lankas um, das fast 40 Jahre lang die militanten Streitkräfte der Tamilen – die „Tamil Tiger“ – bekämpft hat.

Gleichzeitig aber ist die Unionsregierung verpflichtet, die Politik des Staates Tamil Nadu zu berücksichtigen, der genügend Mitglieder im indischen Parlament hat, um die Stabilität der föderalen Regierung zu beeinträchtigen. Die Regierung des Staates Tamil Nadu ist gegen eine kleinere Tamilenpartei vorgegangen, die Mitglied der Koalition in Delhi ist - mit der Begründung, dass diese Partei Leute gegen die Regierung Sri Lankas anstiftet. Nun steht die Unionsregierung im Kreuzfeuer der Tamilen und der Politik Sri Lankas.

Das ist auch im Nordosten der Fall, wo verschiedene Regierungen das Programm der Unionsregierung, große Zahlen aus Bangladesh kommender illegaler Immigranten zurück zu schicken, entweder verteidigen oder ablehnen.

Schwierigkeiten dieser Art gibt es viele. Das Fazit jedoch ist, dass sowohl der Föderalismus als auch die Demokratie einen besseren Kurs halten, als dies je in der Vergangenheit der Fall gewesen ist trotz einzelner Zick-Zack-Bewegungen und Umwege.

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