Indiens Pluralismus ist eine Tatsache, die weitgehend im sozialen Föderalismus des Landes reflektiert ist, Vielfalt in der Gesellschaft anerkennt und respektiert sowie sozialen und politischen Raum für die Artikulierung der verschiedenen Identitäten bietet. In Indien werden 18 Sprachen und mehr als 2000 Dialekte gesprochen. Die Gesellschaft setzt sich aus einem Dutzend ethnischer und sieben religiösen Gruppen, die in zahlreiche Sekten, Kasten und Unterkasten unterteilt sind, zusammen, und über die sieben geographischen Regionen sind sechzig sozial-kulturellen Unterregionen verteilt.

Die Sozialsysteme, wirtschaftlichen Formationen, Kulturströmungen, Sprachen- und Dialektgruppen, religiösen Gemeinden, Kasten und Unterkasten, lokalen Mythologien, ethnischen Identitäten und die Folklore, Musik, der Tanz, das Kunsthandwerk und die Küche, die regionalen Gruppierungen sowie subregionalen Zugehörigkeiten sind von großer Vielfalt geprägt. In der Evolution einer 5000 Jahre alten Zivilisation haben sich zahlreiche Strömungen ethnischer Segmente, religiöser Einflüsse, Sprachen und Kulturen vermischt, um eine klassisch multikulturelle Gesellschaft zu bilden. All diese Identitäten und Variationen zeichnen sich in ihren Verteilungsgebieten und Dimensionen genauso durch Unterschiede aus wie normalerweise separate Staaten – und trotzdem gestaltet diese riesige föderative Politik ein einheitliches, souveränes Territorium, das die Einheit selbst zum föderativen Konzept macht.

Aufbau einer Nation durch die Verfassung

Die indische Verfassung betont die besondere Natur der Nation Indien, indem die gemeinsame Vergangenheit und gemeinsame Zukunft hervorgehoben werden. Die Hoffnungen, die in der Verfassungspräambel verankert wurden, sind die Werte, die allen Indern gemeinsam sind – nicht nur einer bestimmten Gruppe oder einer einzelnen Grundlage. Dies ist die beste Garantie zur Nationsaufbau.

Sowohl im Fall Golaknath von 1967 als auch im Keshavananda Bharti-Fall von 1973 hat der Oberste Gerichtshof Indiens ein Gesetz der Beschränkungen in den Vordergrund gestellt, indem betont wurde, dass bestimmte „Grundelemente“ der Verfassung nicht geändert werden dürfen. Dies bedeutet, dass bestimmte Werte die Aspirationen des indischen Volkes dauerhaft verkörpern. Für den demokratischen Nationsaufbau heißt dies, dass die Launen der jeweiligen politischen Mehrheit in Schach gehalten werden. Demokratie, Recht und Gesetz, die Gleichheit vor dem Gesetz, Föderalismus und Unabhängigkeit der Justiz sind alle Teil dieser grundlegenden Struktur. Ihre Unverletzlichkeit garantiert den ungestörten Übergang zur und die Konsolidierung als Nation.

Die Rechte von Minderheiten

Dieses Phänomen hat besondere Bedeutung, wenn die verschiedenen Probleme der Minderheiten in Indien in Betracht gezogen werden. Selbst wenn eine gewisse Auffassung besteht, dass Diskriminierung und politische Ausgliederung existieren, ist der einzige Weg für die Minderheiten die Teilnahme am öffentlichen Leben der Nation als Bürger und nicht als abhängige Minderheiten. Minderheitengruppen haben erkannt, dass sie nicht länger die Klientel dieser oder jener politischen Partei sein können, sondern die Macht der Nation als Partner teilen müssen.

Letztendlich ist dies nicht nur eine Frage von Mehrheiten bzw. Minderheiten in einer pluralistischen Gesellschaft, sondern auch der sozialen und gleichbehandelnden Gerechtigkeit in einer liberalen Demokratie. Die indische Verfassung bietet eine beachtenswerte Methode zur Behandlung dieser Problematik. Da das Vorgehen bei demokratischen Verfahren und durch die Behörden auf normale Weise den Minderheiten Nachteile bringen würde, gewährleistet der Staat den Schutz der Minderheitenrechte durch besondere Bestimmungen (Artikel 25 bis 30).

Das Problem der Minderheitenrechte scheint mit dem Phänomen des „protektionistischen Sub-Nationalismus“ einherzugehen. In mehreren Orten Indiens haben sich Gefühle des Sub-Nationalismus gegen Minderheitengruppen herausgebildet, als sich die Einwohner einer Region gegen von außen kommende Minderheiten im Beschäftigungs-, Handels- und Wirtschaftswettbewerb nicht durchsetzen konnten, und wenn diese „Anderen“ kulturell und sichtbar andersartig genug waren, dass sie für Fehler verantwortlich gemacht werden konnten. „Protektionismus“-Forderungen von Mehrheitengruppen in zahlreichen Regionen wurden von den Personen, die sich ihres Status’ beraubt glaubten, zu einem aggressiven Nationalismus und antagonistischem Regionalismus ausgebaut. Obwohl ein solches Empfinden auf falschem Bewusstsein und unrichtigen Aspirationen beruht, hat es sich doch des Unterbewusstseins der Völker in Assam, Telengana, Vidarbha, Marathawada, Tamil Nadu, Uttarakhand, Jharkhand, Punjab und Kaschmir bemächtigt. Dieses Unterbewusstsein bot ihnen eine Möglichkeit, ihre Ängste, Unfähigkeit und ihre Fehler symbolisch zu überwinden.

In Sachen Sprache

In Indien hat die Beschäftigungspolitik stets eine Katalysatorrolle bei der sprachlichen Identifikation gespielt. Sprache kann nicht kulturell neutral bleiben – sie kann aber politische Neutralität beanspruchen. Ein Beispiel dafür ist in gewissem Maße das in Indien gesprochene Englisch, mit dem sich keine der eingeborenen Kulturen

Federations Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002

identifiziert. Im sozial-politischen Leben einer Gesellschaft ist es jedoch Tatsache, dass die Sprache der Mehrheit zur Dominanz neigt. Gleichberechtigung in liberalen Demokratien würde daher bedeuten, dass der Staat erstens die Ressourcen und Gelegenheiten zum Erwerben der dominanten Sprache schafft und zweitens den Sprachen der nicht-dominierenden Gruppen ähnliche Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Der erste Punkt wird im mehrsprachigen Indien klar erfüllt – der zweite glänzt jedoch durch Abwesenheit.

In Indien haben Fragen der sprachlichen Identität sogar Grenzkonflikte ausgelöst. Obwohl Hindi den indischen Nationalstaat repräsentiert, wird von den Eliten des Landes Englisch bevorzugt. Selbstverständlich gerät dabei eine weitere Sprache – Urdu – , das fälschlicherweise mit der kulturellen Identität einer Minderheit identifiziert wird, ins Abseits und wird vernachlässigt. Das Schicksal der verschiedenen Dialekte der dominierenden Sprache verläuft ähnlich. Wenn für die Sprachen von Minderheiten im Bildungswesen, in der Verwaltung und auf dem Arbeitsmarkt keine Gelegenheiten vorhanden sind, werden solche Sprachen an den Rand gedrängt. Wenn eine Gemeinschaft sozial und wirtschaftlich vorankommen möchte, muss sie ihre eigene Sprache und demzufolge auch ihre besondere kulturelle Identität zurück lassen. Die Sprache behält vielleicht einen emotionalen und symbolischen Wert bei

– die materielle Bindung mit der Gemeinschaft wird jedoch aufgelöst.

Genau das ist im Fall der Sprache Urdu, die von den Muslimen im nördlichen Indien gesprochen wird, aufgetreten. Da die Muslime in Indien über das Land hinweg in kleinen Gruppen verstreut sind, kann die Grundlage ihrer besonderen kulturellen Identität nicht territorial sein. Religion wird nicht als relevante Variable betrachtet, wenn es um das Verstehen besonderer nationaler Charakteristiken geht. Muslime werden daher sprachlich oft in die breitere sprachliche Identität des Staates, in dem sie leben, assimiliert. Um ihre sozial-religiöse kulturelle Identität beizubehalten, haben sich Muslime verschiedener Symbolik bedient, und die Sprache Urdu erfüllt diese Rolle.

Der Vielfalt entgegenkommen

Die indische Verfassung erkennt die Natur der ethnischen Identität an und bietet für diese adäquate Arrangements. Die Verfassung hat die auf Religion und Sprache beruhenden Differenzen weder ignoriert noch zurückgewiesen, sondern bestimmt lediglich, dass niemand durch eine solche Differenz benachteiligt werden darf. Tatsache ist, dass die Verfassung Differenzen als gegeben betrachtet, anstatt sie zu vernachlässigen, und jede Möglichkeit bietet, Differenzen auszudrücken und weiter zu entwickeln (Artikel 19(1), 25-30). Obwohl die Artikel 14,15,16 & 19 die Ungleichheit verbieten, Artikel 25 bis 30 jedoch Privilegien verleihen, ist hier kein Widerspruch zu finden. Die Verfassung erkennt den ethnischen Pluralismus der indischen Gesellschaft an und liefert die Grundlagen dafür, diesen auszudrücken – sowohl für Individuen (Artikel 19) als auch für Gruppen (Artikel 25,26, 29 & 30).

Eine besondere Eigenheit der indischen Verfassung ist das Recht, die eigene Religion zu propagieren (unter Artikel 25). Zahlreiche Verfassungen garantieren ihren Bürgern das Recht, jede beliebige Religion auszuüben und sich zu dieser zu bekennen. Es ist jedoch ein Hauptverdienst der indischen Verfassung, dass diese zusätzlich zu diesen Rechten das Recht der Verbreitung einer Religion erteilt. Infolge dieser Besonderheit kann jeder Staatsbürger seine Privilegien im Namen von Religion und Kultur ausüben, aber niemand darf im Namen von Religion und Kultur etwas tun, was ihm als Staatsbürger verboten ist.

Die Auswirkungen des Artikels 30 sollen als Beispiel in diesem Zusammenhang dienen. Artikel 30 spricht sprachlichen und religiösen Minderheiten das Recht zu, Bildungseinrichtungen ihrer Wahl zu etablieren und zu verwalten. Den Minderheiten ist verfassungsrechtlich garantiert, dass sie ihre Kultur über die Bildungseinrichtungen weitervermitteln können.

Dieses Recht ist nicht nur ein Minderheitenrecht, sondern ist ein grundlegendes demokratisches Recht, das auf der Freiheit basiert, sich von den Ansichten der Mehrheit loszulösen. Ohne diese Freiheit wäre Integration nur eine Assimilierung. Wie bei anderen Rechten auch legen die Gerichte in Indien besonderen Wert darauf, staatliche Aktionen zu überwachen, die das Bildungswesen von Minderheiten beeinträchtigen könnten.

Für eine pluralistische Gesellschaft wie Indien kann die Option nicht entweder Einheit oder Vielfalt heißen, da beide im selben Rahmenwerk koexistieren müssen.

In der Verfassung wurden daher liberale Werte verinnerlicht, um die Förderung von Toleranz und kultureller Koexistenz zu ermöglichen. Und dies wurde als die ideale Beziehungsform für die Minderheiten innerhalb der Nation betrachtet. Heute werden die Bemühungen von Minderheiten, die ihre religiös-kulturelle Identität als ethnische Gruppe verteidigen, oft als „Fundamentalismus“ und als Bedrohung der nationalen Einheit angesehen.

In ähnlicher Weise sehen die Minderheiten im Prozess der „kulturellen Osmose“ eine Bedrohung ihrer besonderen kulturellen Identität. Dies alles führt dazu, dass Minderheitengruppen ihre besondere Identität intensiver als Schutzschild für ihre kulturelle Existenz benutzen. Dieses Problem wurde durch die Verfassung gelöst, die kulturelle, sprachliche, regionale und religiöse Unterschiede nicht als eine mögliche Bedrohung der nationalen Einheit oder als Konfliktherd zwischen Mehrheiten und Minderheiten betrachtet.

Die indische Verfassung hat erkannt, das der Weg zum Erreichen der Gleichberechtigung von Individuen und Gruppen nur durch das Anerkennen der einzelnen Interessen möglich ist. In einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft darf es keinen Platz für eine dominierende, über allen anderen stehende Ideologie, Religion oder Kultur oder einen dominierenden Glauben geben. Eine solche Gesellschaft muss für jede ihrer Identitäten eine separaten „sozialen Raum“ schaffen, um ihre demokratische Natur zu bewahren.

Die überlebensfähige Garantie für die Zukunft der indischen Demokratie ist das sorgfältige Zusammenspiel von Demokratie, Pluralismus und des Rechtsstaatprinzips in der indischen Verfassung. Die Gründerväter der indischen Verfassung haben die philosophischen Behauptungen eines Kampfes der Zivilisationen zurückgewiesen, indem sie jeden indischen Staatsbürger ungeachtet seines religiösen Glaubens als vor dem Gesetz absolut gleich erklärt haben. Die Verfassungsgründer, die die Theorie zweier Nationen verworfen haben – die Idee, die der Teilung Indiens im Jahre 1947 zugrunde lag – haben damit die Gleichheit aller Staatsbürger in der Verfassung und in den Behörden gesetzlich verankert.

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