Die Niederlande sind nicht als föderatives oder zum Föderalismus neigendes Land bekannt. Trotzdem sind föderale Tendenzen und Verknüpfungen in der niederländischen Geschichte ein wichtiges Thema, wenn aktuelle Ereignisse in den Niederlanden und in anderen Teilen der Welt erklärt werden sollen.

An gewissen Punkten in der Geschichte der Niederlande hat der Föderalismus sowohl im Lande selbst als auch in den früheren Kolonien eine prominente Rolle gespielt, und zu anderen Zeiten wurde er komplett diskreditiert (siehe Kasten). Das Königreich der Niederlande ist heute eine „dezentralisierte Staatengemeinschaft“, die in den außenpolitischen Beziehungen als singuläre Einheit mit einheitlichen rechtlichen Strukturen fungiert, während Städte und Provinzen gleichzeitig einen verfassungsrechtlichen Status genießen. Die Provinzen und Städte werden in der Verfassung als „autonome“ Entitäten aufgeführt, deren Machtbefugnisse in separaten Gesetzen (Provinciewet, Gemeentewet) verankert sind. Im gesetzlichen Sinne spielen sie eine Doppelrolle: als Agenten der zentralen Regierung, sowie als autonome, demokratische und rechenschaftspflichtige Verwaltungen.

Holländische politische Kultur: Klein aber fein

Obwohl das holländische Recht den Provinzen und Städten eine gewisse Autonomie zugesteht, handelt es sich in Wirklichkeit um ein weitgehend zentralisiertes System. Während die Provinzen und Städte ein Personal- und Budgetaufkommen von 2530% des öffentlichen Sektors beanspruchen, belaufen sich die autonomen Steuereinnahmen auf höchstens 5%.

Trotzdem ist die holländische politische Kultur stark dezentralisiert oder sogar föderativ. Der Autonomie und Identität der Gesellschaftsgruppen (religiöse und kulturelle) und den lokalen bzw. regionalen Entitäten wird mit großem Respekt begegnet. Die Wurzel dieser politischen Kultur ist die historische Notwendigkeit, in einem System zu überleben, in dem nie eine einzige Gruppe ausschließliche Dominanz erzielt hat.

Das Modell einer „ko-sozialen“ Demokratie in den Niederlanden (die von Lijphart, einem holländisch-amerikanischen Politwissenschaftler entwickelt wurde und weitgehend von Althusius angespornt wird), lehnt sich stark an den Föderalismus an – speziell an den nicht-territorialen Föderalismus. Dieses Modell wurde nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in den föderalen Systemen von Belgien, Österreich und der Schweiz angewendet. Daher sind, obwohl die Niederlande kein föderatives Staatssystem sind, grundlegende „föderale“ Reflexe – Respekt für die Vielfalt unter Völkergruppen und Regionen, Entscheidungsfindung ohne Mehrheitsbeschluss und die Suche nach Konsensus – tief in der niederländischen Kultur verankert.

In der nationalen Verwaltung der Niederlande wurden Städte, wie in der restlichen westlichen Welt, mit einer Zunahme technisch komplizierter Aufgaben und schwieriger Herausforderungen konfrontiert, die das Resultat einer erweiterten sozialökonomischen Entwicklung und Mobilität sind. Um diesen Trends zu begegnen, wurden bisher meist Verwaltungsbereiche erweitert, was zum Zusammenschluss kleinerer Städte und Gemeinden führte. Die Gesamtzahl der Städte und Gemeinden in den Niederlanden hat sich im 20. Jahrhundert von etwa 2000 auf weniger als 500 verringert. Der Widerstand der Bürger gegen diesen Trend verstärkt sich, und als Alternative zu diesen Zusammenschlüssen unterstützen zahlreiche Städte und Gemeinden nun das Bilden von inter-städtischen „Föderationen“ (federatiegemeenten).

Entkolonialisierung und Misstrauen gegen den Föderalismus

Seit dem 16. Jahrhundert haben die Holländer ein auf der Seefahrt begründetes Handelsimperium in den Ost- und Westindischen Inseln aufgebaut. Um Zugang zu den Kolonien zu erhalten, mussten mit den örtlichen Herrschern Verträge abgeschlossen werden, besonders im Osten. Deren interne Rechte blieben dabei intakt, und der holländische Einfluss beschränkte sich auf Handel, Wirtschaft und auswärtige Beziehungen.

In einigen Teilen des heutigen Indonesiens wurde ein System entwickelt, das dem britischen indirekten Herrschaftssystem in Indien ähnelt. In anderen Gebieten setzte sich die holländische koloniale Herrschaftsform jedoch stärker durch, und im späten 19. und 20. Jahrhundert zeigte sich eine allgemeine Tendenz zur direkten Intervention durch die Holländer. Als sich im

20. Jahrhundert der Wunsch nach Unabhängigkeit verfestigte, war die Reaktion Hollands von Zögern und Zentralismus geprägt. Auf zentraler Ebene wurde dem Volksrat (Volksraad) nur eine begrenzte, „native“ Einflussnahme eingeräumt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Unabhängigkeit Indonesiens zur Realität wurde, begannen die politischen Gremien mit den Verhandlungen über die Machtübertragung (1947-1949). Überraschenderweise wurde Föderalismus als Lösung für den Übergang erwähnt. Unter Berücksichtigung der enormen Vielfalt der Ostindischen Inseln wurde eine föderale Struktur für die Vereinigten Staaten von Indonesien (U.S.I.) entworfen. Die holländische Regierung übertrug die Macht an die U.S.I., die jedoch von der neuen Regierung in Jakarta umgehend aufgelöst wurden. Obwohl die Vielfalt Indonesiens eine ausgezeichnete Basis für ein flexibles föderales System bietet, wurde Föderalismus als neokoloniale „Herrsche und Teile“-Intrige abgetan. Selbst heute noch wird in Indonesien auf Föderalismus als Staatsform herabgesehen.

Osttimor, das nach einer Periode mit gewalttätigen Konflikten im Jahr 2002 seine Unabhängigkeit erlangte, ist der frühere portugiesische Teil der Insel Timor. Der westliche Teil wurde im 16. Jahrhundert von Holland erobert und 1949 an Indonesien angeschlossen. Die indonesische Politik gegenüber Osttimor wurde von den Spannungen und dem Konfliktpotenzial innerhalb der eigenen Grenzen geprägt: in Westtimor, im nahegelegenen Inselreich der Molukken, im indonesischen Teil von Neuguinea sowie in der Aceh-Region auf Sumatra im nordwestlichen Indonesien. Anstelle einer föderativen Lösung (welche der damalige Präsident der USA als bevorzugte Option bezeichnete, falls diese möglich gewesen wäre) schloss die internationale Staatengemeinschaft ein

Federations Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002

Abkommen, das Osttimor von Indonesien abspaltete.

Fragmentierung in der Karibik

In der Karibik sehen sich die Niederländischen Antillen zunehmend vor Schwierigkeiten gestellt, vereint aufzutreten. Sechs Inseln – davon drei vor der Küste Venezuelas und drei in der Windward-Gruppe bei Puerto Rico – waren einst unter holländischer Kolonialherrschaft vereint und sind noch immer stark abhängig von den Niederlanden.

In dieser Region ging die Entkolonialisierung im Vergleich zu Indonesien langsamer vonstatten. Surinam erhielt seine Unabhängigkeit im Jahre 1975. Die Niederländischen Antillen erhielten in den früheren 50er Jahren eine eigene nationale Regierung. Die Regelungen für die sechs Inseln sahen eine föderale Lösung vor, die auf der Gleichheit und auf Partnerschaften zwischen den Inseln und der Unterstützung durch die Niederlande beruhte. In Wirklichkeit hat sich der Föderalismus in den Antillen jedoch nicht durchgesetzt. Die stärkeren Inseln waren nicht willens, die schwächeren zu unterstützten, und die niederländische Regierung wollte einer unentschiedenen Inselgruppe keinen Föderalismus aufnötigen.

Im Jahre 1986 verließ die Insel Aruba das System und entschied sich für einen Sonderstatus und eine direkte Verbindung mit den Niederlanden. Gegenwärtig verfolgt St.Maarten ähnliche Ziele. Da die Loyalität unter den einzelnen Inseln insgesamt schwach ist und keine der Inseln willens oder in der Lage ist, seinen Willen den anderen Inseln aufzuzwingen, scheint ein unabhängiger Staat der Niederländischen Antillen oder eine föderale Staatsform politisch nicht realisierbar.

Impliziter Föderalismus

Um es offen auszudrücken: Trotz der oben aufgeführten Beispiele sind in der holländischen Politik nur wenige Referenzen zum Föderalismus zu finden. Holländische Christdemokraten, Linksliberale und die Grünen sprechen sich ausdrücklich für ein föderales Europa aus. In der einheimischen Politik jedoch wird Föderalismus kaum erwähnt.

Trotzdem sind die Prinzipien des föderativen Denkens und föderaler „politischer Reflexe“ Teil der holländischen Geschichte und der politisch-verwaltungstechnischen Kultur. Die Idee der „föderativen Gemeinden“ könnte daher durchaus auf fruchtbaren Boden fallen. Multikultureller, multi-loyaler und begrenzter Föderalismus ist - als praktische Lösung zum Eingliedern von gesellschaftlichen Minderheiten – durchaus Teil des holländischen Repertoires. Er hat uralte Wurzeln im holländischen Boden.

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