Australien: Die Entwicklung einer Verfassung

KA TY LE ROY / CHER YL SAUNDERS

Die australische Bundesverfassung hat in den über 100 Jahren ihres Bestehens bewiesen, dass sie fähig ist, sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Der Wortlaut der Verfassung hat sich seit 1901 nur wenig verändert, lediglich 8 von 44 Referenden für eine Verfassungsänderung waren erfolgreich. Durch gerichtliche Auslegungen und Änderungen in der politischen Praxis ist es jedoch zu einer graduellen Entwicklung der Bedeutung und der Umsetzung des Textes gekommen. Eine der wichtigsten Änderungen besteht dabei in der schrittweisen Ausdehnung der Befugnisse des Commonwealth, also des Parlaments und der Regierung auf Bundesebene. Trotz der Stabilität des durch die Verfassung geschaffenen Regierungssystems werden Verfassungsänderungen zum besseren Schutz der Grundrechte und zur Einführung einer Republik diskutiert.

Die australische Verfassung wurde im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ausgehandelt und trat am 1. Januar 1901 in Kraft. Sie war nicht das Produkt von Aufruhr sondern das Ergebnis des Wunsches der sechs Kolonien, die danach die australischen Bundesstaaten bildeten, sich aus mehreren praktischen Gründen zu einer beschränkten Union

8

Katy Le Roy / Cheryl Saunders

zusammenzuschließen. Die Verfassung verbindet föderale Strukturen nach dem Vorbild der USA mit dem britischen System einer dem Parlament verantwortlichen Regierung, wobei der Premierminister ein Mitglied des Parlaments ist. Das Gemeinwesen besteht aus sechs Bundesstaaten, zwei selbstverwalteten Territorien auf dem Festland und mehreren Außengebieten.

Obwohl die Verfassung ursprünglich vom britischen Parlament eingesetzt wurde, erlangte Australien nach und nach ohne einen formalen verfassungsrechtlichen Wandel oder einen Bruch in der gesetzlichen Kontinuität seine Unabhängigkeit von Großbritannien. Die Verfassung Australiens wurde zudem in einem relativ populären Abstimmungsverfahren in allen sechs Kolonien bestätigt. Es ist ein verhältnismäßig kurzes Dokument mit 127 Abschnitten und 11.908 Wörtern.

Die beiden primären Ziele der Verfassung bestanden darin, eine Föderation und die Institutionen einer nationalen Regierung zu schaffen. Diese beiden Ziele wurden zwar zufriedenstellend erreicht, die Kürze der Verfassung führt jedoch in einigen Bereichen zu Missverständen darüber, wie die australische Regierung tatsächlich funktionieren soll. Die Grundlage der Verfassung bildete das bereits existierende Gewohnheitsrecht (Common Law). Viele wichtige Regeln mit Verfassungscharakter werden außerhalb der formalen Verfassung definiert.

Es hat sich als schwierig erwiesen, den Text der australischen Verfassung zu verändern. Bevor ein vom Parlament verabschiedeter Gesetzentwurf zur Änderung der Verfassung in Kraft tritt, muss es in einer Volksbefragung genehmigt werden. Eine solche Genehmigung erfordert die Zustimmung einer Mehrheit der Wähler auf Bundesebene und einer Mehrheit der Wähler in einer Mehrheit der Bundesstaaten. Wie erwähnt, waren nur 8 von 44 Änderungsvorschlägen von Erfolg gekrönt. Zu suchen sind mögliche Gründe für dieses Ergebnis in der höchst ungünstigen Art des Abstimmungsverfahrens, dem Mangel an Verständnis der Änderungsvorschläge und in einer konservativen Grundeinstellung der australischen Wähler im Hinblick auf Verfassungsfragen. Verfassungsfragen wird in Australien relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Typischerweise behaupten die Australier, relativ wenig über ihre Verfassung zu wissen. Die Information der Öffentlichkeit wird dadurch erschwert, dass der Text der Verfassung in der Tat einige Institutionen, wie etwa das Kabinett und das Amt des Premierministers, mit denen die Bürger am ehesten vertraut sind, nicht behandelt.

Die Verfassungsdebatte in Australien drehte sich im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert in erster Linie darum, ob die formale Anbindung an die Krone gelöst und eine Republik gegründet werden soll und welche Gestalt diese Republik annehmen könnte. Die 1999 zu dieser Frage abgehaltene Volksbefragung scheiterte weitgehend daran, dass

Australien

man an den Regelungen, die stattdessen zum Tragen gekommen wären, Schwächen feststellte. Die Frage der Gründung einer Republik wird wohl auch zu Beginn des neuen Jahrhunderts die beherrschende Verfassungsfrage bleiben, und zwar nicht, weil sie besondere Schwierigkeiten in der Praxis verursacht, sondern aus symbolischen Gründen.

Weder die Verfassung des Commonwealth noch die Verfassungen der einzelnen Bundesstaaten enthalten einen Grundrechtskatalog. Die Verfassung gewährt keinen expliziten Schutz der Persönlichkeitsrechte, obwohl einige Beschränkungen der Befugnisse des Commonwealth einen ähnlichen Effekt haben. Als die Verfassung geschrieben wurde, waren die Länder in der britischen Verfassungstradition damit zufrieden, dass Rechte auf anderen Wegen angemessen geschützt werden konnten. Anders als vergleichbare Länder – darunter nun auch das Vereinigte Königreich – hat Australien diese Sicht der Dinge bewahrt. Wiederholte Versuche, einen nationalen Grundrechtskatalog einzuführen, sind gescheitert. Konsistent mit dieser etwas selbstzufriedenen Sichtweise, dass das Rechtssystem in der Lage ist, die Rechte angemessen zu schützen, gibt es im australischen Recht keine Verankerung der von Australien unterzeichneten internationalen Menschenrechtsinstrumente. Es wird angenommen, dass sich das australische Recht im Einklang mit ihnen befindet. Wenn sich diese Annahme, was gelegentlich geschieht, als unzutreffend erweist, sind Korrekturmaßnahmen möglich, werden aber nicht immer als dringlich empfunden.

Australien ist nunmehr das einzige Land in der Welt des Common Law, das keinen systematischen Rechtsschutz gewährt. Es ist wahrscheinlich, dass die Grundrechte Gegenstand einer zukünftigen Verfassungsdebatte sein werden. Ein vom Parlament verabschiedeter gesetzlicher Grundrechtskatalog, für den das Parlament sein Gesetzgebungsrecht im Hinblick auf "externe Angelegenheiten" nutzen könnte, wäre weniger problematisch für die gewählten Institutionen der Bundesregierung und könnte aus diesem Grund einem verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog vorgezogen werden. Anderseits würde die Gesetzgebung des Commonwealth inkonsistente Gesetze der Bundesstaaten außer Kraft setzen und damit den Widerstand der Bundesstaaten hervorrufen. Im Lichte dieser Schwierigkeiten wird in Australien der Schutz der Grundrechte und die Weiterentwicklung des einmaligen australischen Common Law auf absehbare Zeit den traditionellen Mechanismen des Parlaments und der Gerichte überlassen bleiben.

In einigen Aspekten war die Verfassung bemerkenswert erfolgreich. Sie hat alle Teile eines geografisch sehr großen Landes zusammengebracht und friedlich zusammengehalten und hat mindestens einem ernsthaften Versuch der Abspaltung standgehalten. Sie hat für mehr als

10

Katy Le Roy / Cheryl Saunders

ein Jahrhundert als wichtigstes konstitutives Instrument stabiler demokratischer Herrschaft gedient. Sie ist flexibel genug gewesen, sich drastischen Veränderungen der Rahmenbedingungen – darunter dem Übergang Australiens in die Unabhängigkeit –

anzupassen. Sie hat einen Regierungsrahmen bereitgestellt, innerhalb dessen der Commonwealth, die Bundesstaaten und die Territorien aufblühen konnten. Zumindest für diejenigen, die in Verfassungen Instrumente zur Strukturierung und Kontrolle von Macht sehen, ist die Verfassung jedoch – zum Teil auf Grund ihrer Langlebigkeit – für die Struktur und das Funktionieren Australiens zunehmend irrelevant geworden. Wahrscheinlich sind weitere Änderungen der Verfassung notwendig. Diese

werden eine verbesserte Information der Bevölkerung über das Verfassungssystem, eine intensive öffentliche Debatte und einige Verhaltensänderungen erfordern.