Belgien: Mehrdeutigkeit und Uneinigkeit

KRIS DESCHOUWER

Belgien wurde erst nach und nach zu einem föderalen Staat. Der Prozess setzte in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein und erreichte seinen Höhepunkt in den 90er Jahren. Mit der Einführung des Föderalismus sollten die Spannungen zwischen dem Niederländisch sprechenden Norden und dem Französisch sprechenden Süden bewältigt werden. Interessanterweise haben der Norden und der Süden immer noch etwas unterschiedliche Vorstellungen von ihrem föderalen System. Diese Uneinigkeit hat ihren Weg in die Verfassung gefunden. Nord und Süd streiten sich noch immer über die Definition der Rechte im Hinblick auf die Landessprachen und die Minderheiten. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass diese in der Verfassung nicht eindeutig bestimmt werden. Die anhaltende Mehrdeutigkeit und die tiefen Meinungsverschiedenheiten sind grundlegende Elemente einer föderalen Struktur, die – überraschenderweise – relativ gut und ohne größere Konflikte funktioniert.

Belgiens föderales System wurde offiziell 1993 eingeführt, im Anschluss an Teilreformen, mit denen die ethnisch-sprachlichen Unterschiede abgemildert werden sollten. Die Gestalter der belgischen Verfassung fanden ihre Inspiration nicht in bestehenden Modellen föderaler Staaten.

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Die Belgische Föderation resultierte nicht aus der Umsetzung einer Blaupause, und niemand erfand oder entwarf das neue Belgien. Vielmehr war es das Produkt einer Reihe von subtilen Kompromissen zwischen zwei unterschiedlichen Ansichten darüber, wie der alte Einheitsstaat reformiert werden musste.

Das wahrscheinlich auffälligste Merkmal der Belgischen Föderation ist ihre duale Natur. Belgien ist eine Föderation sprachlicher Gemeinschaften, aber auch territorialer Einheiten. Diese doppelte Föderation ist das Ergebnis der widerstreitenden Ansichten der Niederländisch bzw. Französisch sprechenden Gemeinschaften hinsichtlich der idealen Ausgestaltung des Landes. Das erste Verlangen nach Dezentralisierung kam von der Niederländisch sprechenden Gemeinschaft und begründete sich in der Verteidigung ihrer Sprache. Sie verlangten Autonomie für die beiden großen Sprachgemeinschaften. Das nördlich der Sprachgrenze gelegene Brüssel wäre in die Niederländische sprechende bzw. flämische Gemeinschaft integriert oder zumindest eng an diese angebunden worden. Umgekehrt traten die Frankophonen dafür ein, den Regionen Autonomie zu gewähren. Das hätte bedeutet, dass Brüssel mit einer zu 85 Prozent frankophonen Bevölkerung eine Region der Belgischen Föderation und nicht Teil der flämischen Gemeinschaft geworden wäre.

Eine komplexe doppelte Föderation bot eine Möglichkeit, diese Pattsituation zu überwinden. Belgien führte sowohl die vom niederländischen Sprachraum vorgeschlagenen Sprachgemeinschaften ein als auch

die von den Frankophonen bevorzugten territorial

definierten Regionen. Die drei Regionen sind das frankophone Wallonien, das zweisprachige Brüssel und das Niederländisch sprechende Flandern. Die Niederländisch sprechende Gemeinschaft kann ihre Macht in der flämischen Region und in Brüssel ausüben, während die Französisch sprechende Gemeinschaft dies in Wallonien und in Brüssel tun kann. Dieses Arrangement ist sicherlich sehr viel komplizierter als das anderer Föderationen, die einfach in territorial definierte Untereinheiten aufgeteilt sind. Aber es hat den Vorteil, eine Lösung für

zwei unterschiedliche und in hohem Maße inkompatible Ansichten über das Wesen des Landes zu bieten. Die Verfassung der belgischen Föderation definiert und akzeptiert somit zwei unterschiedliche Visionen für das Land und ermöglicht es ihnen, nebeneinander zu existieren.

Diese gemeinsame Existenz hat jedoch auch ihre Probleme. Die Stadt Brüssel ist jetzt eine Region, aber eine mit einer schutzbedürftigen Niederländisch sprechenden Minderheit. Eine Anzahl der Sitze im

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Regionalparlament ist für Niederländisch sprechende Bürger und Bürgerinnen reserviert. Sie stellen zudem die Hälfte der Minister in der Exekutive der Region.

Die Schaffung einer flämischen Region im Norden des Landes führte dazu, dass ungefähr 60.000 Frankophone auf der falschen Seite der"

Grenze" leben. Die Frankophonen in Flandern bedürfen deshalb ebenfalls des Schutzes. Die praktische Lösung für diese Französisch sprechenden Menschen bestand in der Schaffung einer Ausnahme: Die Frankophonen, die in als "communes à facilités" bezeichneten Gemeinden leben, können in französischer Sprache mit den regionalen und föderalen Behörden kommunizieren.

Eine Kontroverse ist jedoch über die Definition, Interpretation und den Umfang dieser französischen Sprachrechte innerhalb Flanderns entstanden. Viele der Niederländisch sprechenden Menschen sehen die Dienstleistungen in französischer Sprache als eine vorübergehende Ausnahme vom Territorialprinzip: Den sprachlichen Minderheiten soll geholfen werden, bis sie die Sprache der Region hinreichend gut gelernt haben, um mit den Ämtern kommunizieren zu können. Obwohl die Rechte der Minderheiten in diesen Gebieten in der Verfassung verankert sind, verlangt Flandern regelmäßig ihre Abschaffung, weil sie eine Ausnahme von der Regel der territorial definierten Sprachen sind. Die Niederländisch sprechenden Menschen argumentieren, dass das Verhältnis der Sprachgruppen zueinander durch die föderale Struktur des belgischen Staates geklärt ist.

Unter den Frankophonen herrscht eine entschieden andere Meinung über die Sprachrechte vor. Sie betrachten die Französisch sprechenden Menschen in Flandern als eine Minderheit, die desselben formalen Schutzes bedarf, wie ihn die sehr kleine Niederländisch sprechende Minderheit in Brüssel genießt. Sie weisen die Vorstellung zurück, dass die Rechte der Französisch sprechenden Menschen in Flandern als vorübergehende Maßnahme gesehen werden sollten. Sie betrachten diese Rechte als fundamental und argumentieren weiter, dass sie nicht nur auf eine kleine Anzahl von "communes à facilités" beschränkt bleiben sollten. In einigen Kommunen mit einer bedeutenden frankophonen Minderheit genießen Französisch sprechende Bürger zum Beispiel überhaupt keinen Schutz. Dies schließt frankophone Bürger in den großen flämischen Städten Antwerpen und Gent mit ein.

Belgiens Frankophone beziehen sich auf internationales Recht – besonders die Rahmenkonvention des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten –, wenn sie einen allgemein besseren Schutz für die Frankophonen in Flandern fordern. Sie definieren die Französisch sprechenden Bürger in Flandern als Minderheit, die einen angemessenen kulturellen Schutz verdienen, während die Niederländisch sprechenden Bürger argumentieren, dass Sprachrechte auf einem eindeutigen

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Zusammenhang von Gebiet und Sprachgebrauch beruhen sollten. Zusammengefasst heißt dies, dass die Niederländisch sprechenden Bürger nicht der Meinung sind, dass den Minderheiten, die im Niederländisch sprechenden Teil des Landes leben, explizite Sprach- und Kulturrechte gewährt werden sollten.

Diese Debatte ist typisch für die öffentliche Diskussion, die in Belgien seit Jahrzehnten stattfindet. Bis in die 80er Jahre haben solche Diskussionen und die daraus folgende Kontroverse zum vorzeitigen Rücktritt einer ganzen Reihe belgischer Regierungen geführt. Es ist ein gutes Zeugnis für das gegenwärtige Modell, dass es in der Lage gewesen ist, einem hohen Maß an Meinungsverschiedenheit und Mehrdeutigkeit standzuhalten.