Brasilien: Herausforderungen bei der Umsetzung der Verfassung

CELINA SOUZA

In seinen 115 Jahren föderaler Regierung hat Brasilien sieben verschiedene Verfassungen gesehen. Heute befindet sich das Land unter der Ägide der Verfassung von 1988. Sie ist das Ergebnis der Rückkehr zur Demokratie nach beinahe zwanzigjähriger Militärherrschaft. Brasilien hat eine Reihe föderaler Ordnungen sowie autoritäre und demokratische Perioden erlebt. Die sozialen Hauptprobleme des Landes, die regionale und soziale Ungleichheit und die Armut, sind von keinem politischen System energisch genug angegangen worden, obwohl sie für diejenigen, die die Verfassungen entworfen haben, durchaus von Bedeutung waren.

Der Föderalismus wurde 1889 eingeführt und in der Verfassung von 1891 verankert. Anders als in vielen anderen Föderationen war der Föderalismus in Brasilien nie eine Antwort auf tiefe soziale Risse ethnischer, sprachlicher oder religiöser Art. Weil die Einheit des Landes seit der Zeit, als Brasilien ein föderaler Bundesstaat wurde, nie ein Problem darstellte, legt die Verfassung fest, dass "alle Macht von den Menschen ausgeht", nicht von der Nation als einer Gemeinschaft mit einer gemeinsamen

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Geschichte, nicht von einem durch eine Regierung organisierten Staat und nicht von den einzelnen Bundesstaaten als Mitgliedern der Föderation. Sie weist damit darauf hin, dass Brasiliens föderales System auf dem Prinzip des Individualismus und nicht auf dem Gemeinschaftsprinzip aufgebaut ist.

In der Verfassung von 1988 kommt eine verfassungsrechtliche Tradition zum Ausdruck, die sich über sieben Verfassungen entwickelt hat. Die Verfassung von 1988 unterscheidet sich von ihren Vorgängerinnen darin, dass das Volk an ihrer Entstehung beteiligt war. Dies war ein vitales Element im Übergang zur Demokratie und wurde zu einem wichtigen Instrument für die Legitimierung der Verfassung und die gesamte Redemokratisierung. Die wichtigsten politischen Ziele der Verfassung bestanden darin, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, die nationale Entwicklung sicherzustellen, Armut und Ausgrenzung zu beseitigen, die regionale und soziale Ungleichheit zu verringern und das Wohlergehen aller Menschen ohne Vorurteile und Diskriminierung zu fördern. Sie definiert Grundprinzipien, Regeln und Rechte, aber auch eine große Zahl von politischen Maßnahmen. Zudem institutionalisiert sie (a) zusätzlich zu den einzelnen Bundesstaaten der Föderation die Gemeinden als eine Regierungsebene, (b) stellt sie den einzelnen föderalen Teileinheiten, insbesondere den lokalen Regierungen, mehr Ressourcen zur Verfügung, (c) erweitert sie die Kontrolle der drei Regierungsebenen durch die Gesellschaft und die Institutionen, indem sie der Exekutive und dem

Rechtssystem zusätzliche Befugnisse einräumt

und die Rolle von sozialen Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen bei der Kontrolle der Regierung anerkennt, und (d) macht Sozialleistungen, insbesondere die Leistungen des Gesundheitswesens, allen zugänglich.

Warum hat Brasilien dann Probleme, eine stabile föderale Demokratie aufrechtzuerhalten, die in der Lage ist, Perioden autoritärer Herrschaft zu vermeiden, soziale und regionale Ungleichheiten zu verringern und die soziale Demokratie mit den Restriktionen der Weltwirtschaft auszusöhnen? Die derzeit wichtigsten Probleme Brasiliens beruhen nicht so sehr auf Schwächen der

Ver fassung selbst, sondern mehr auf den Schwierigkeiten der Regierung, neue politische Prioritäten zu setzen und mit ökonomischen Restriktionen fertig zu werden, die von den Autoren der Verfassung nicht vorhergesehen wurden. Es gibt eine Diskrepanz zwischen den Bereichen, die direkten verfassungsrechtlichen Vorgaben unterliegen, und den polit-ökonomischen Rahmenbedingungen, wobei letztere noch immer Vorrang vor den verfassungsmäßigen Aufträgen genießen.

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Brasiliens Föderalismus und Verfassungsherrschaft sieht sich gegenwärtig mehreren Problemen gegenüber. Brasilien ist immer eine Föderation gewesen ist, die durch soziale und regionale Ungleichheit gekennzeichnet war. Obwohl die Verfassung von 1988 wie auch ihre Vorgängerinnen eine Reihe von politischen und fiskalischen Mechanismen vorgesehen hatten, um regionale Ungleichheiten zu vermindern und Armut zu beseitigen, waren diese Mechanismen nicht in der Lage, die historischen Unterschiede zwischen Regionen und sozialen Klassen auszugleichen.

Die Regierungen der drei Ebenen sind nicht in der Lage gewesen, die Armut und regionale Ungleichheit zu vermindern. Ihre Handlungsfähigkeit wird durch eine Anzahl von Faktoren beschränkt, von denen die finanzpolitischen Forderungen der internationalen Kreditgeber sowie der Finanzinstitutionen und Finanzregulierungen der Föderation nicht die unwichtigsten sind. Die Fähigkeiten der einzelnen Bundesstaaten werden auch durch ihren Schuldendienst eingeschränkt.

Ein anderer Faktor, der die einzelnen Bundesstaaten negativ beeinflusst, ist die Öffnung der brasilianischen Volkswirtschaft. Sie neigt dazu, die innerstaatlichen Beziehungen zu komplizieren, da sie den Unterschied zwischen entwickelten und weniger entwickelten Bundesstaaten vergrößert. Dies trägt auch zum aktuellen Trend bei, frühere, wenn auch zögerliche, Initiativen zur ökonomischen Dezentralisierung heute wieder rückgängig zu machen.

Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass es in Brasilien nur wenige Mechanismen gibt, mit deren Hilfe eine Koordinierung zwischen den drei Regierungsebenen erfolgen könnte. Dies hat an Wichtigkeit gewonnen, weil die Finanzlage der kommunalen Regierungen in der Föderation im Vergleich zu den einzelnen Bundesstaaten verbessert und ihnen die Verantwortung für wichtige sozialpolitische Maßnahmen übertragen wurde.

Die Aussicht, Verfassungsprinzipien in politische Maßnahmen für regionale Entwicklung umzusetzen, steht gegenwärtig nicht auf der brasilianischen Agenda. Eine Umsetzung ist jedoch nicht unmöglich, da der Abbau regionaler Ungleichheiten für die Autoren der Verfassung immer Priorität genoss. Es ist auch nicht unmöglich, eine größere Klarheit bei der Rolle der einzelnen Bundesstaaten in der Föderation vorherzusehen. Den Schulden und Problemen der einzelnen Bundesstaaten und ihrem Versagen in der Bekämpfung von Gewalt und Drogenhandel wird nämlich jetzt höchste Priorität beigemessen.

Man ist sich einig, dass eine umfassende Überprüfung der fiskalischen und steuerpolitischen Mechanismen und der Rolle jeder einzelnen Regierungsebene in der Föderation notwendig ist. Es wurden genügend kurzfristige Maßnahmen ergriffen, um den Entscheidungsträgern bewusst zu machen, dass signifikante Änderungen notwendig sind. Diesen Änderungen wird wahrscheinlich jedoch eine breite Debatte vorausgehen, in der Regierungs- und Privatinteressen zum Ausdruck gebracht werden.

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Wie die erheblichen Interessenkonflikte bewältigt werden sollen, ist noch nicht klar. Eines scheint jedoch sicher zu sein: Änderungen in sensiblen Interessenbereichen werden voraussichtlich zur Verunsicherung von Wählern und Investoren führen.

Die Lösung der wichtigsten Probleme Brasiliens, insbesondere der sozialen und regionalen Ungleichheit, hängt weniger vom Föderalismus und der Verfassung ab, als vielmehr davon, dass größere politische Konflikte angegangen werden, politische Prioritäten neu festgesetzt werden und dass die wirtschaftliche Leistung verbessert wird. Dennoch erfordern politische Maßnahmen zur Über windung einer langen Geschichte von Ungleichheit die Vermittlung und die Ressourcen der Regierung – in einer Zeit, in der Regierungen von vielen mehr als Hindernis denn als Lösung betrachtet werden. Diese Sichtweise würde die Rolle von Regierungen, besonders in den Entwicklungsländern, darauf beschränken, Haushaltsüberschüsse zu Lasten einer Zunahme öffentlicher Ausgaben zu erzielen.