Verfassungspolitik in Kanada

RAINER KNOPFF / ANTHONY SA YERS

Kanada, eine der ältesten föderalen Demokratien der Welt, leidet unter Spannungen, die vor kurzem die Gefahr einer Auflösung heraufbeschworen haben. Ernstzunehmende separatistische Bestrebungen in der Provinz Quebec, Kanadas überwiegend französischsprachigen Provinz, begannen Mitte der 70er Jahre. 1995 erreichten sie ihren Höhepunkt in einem Referendum, das nur um Haaresbreite (1,2 Prozent) eine Mehrheit für die Abspaltung verpasste.

Quebec fordert den Status einer besonderen Gemeinschaft" mit

"

der Begründung, es repräsentiere eine der beiden kanadischen Gründungsnationen. Das bedeutet, dass die anderen neun Provinzen Untereinheiten der englischsprachigen Nation sind. Demgegenüber vertreten die anderen Provinzen die Vision eines einheitlichen Status für alle Provinzen. Das Ergebnis ist eine Dynamik hin zu mehr Dezentralisierung.

Die territoriale Version der "zwei Nationen" (d.h. Quebec und das restliche Kanada) konkurriert mit der Idee eines bilingualen Kanada, in dem sich Menschen beider Sprachgruppen im ganzen Land zu Hause fühlen können. Beide Interpretationen der französischen und englischen Dualität werden wiederum durch die Idee eines multikulturellen Kanada herausgefordert. Zur gleichen Zeit haben sich die Ureinwohner Kanadas

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als "First Nations" mit dem Recht zur Selbstverwaltung neu definiert, vielleicht sogar mit der Aussicht, die dritte verfassungsmäßig verankerte Regierungsebene zu werden. Um nicht an den Rand gedrängt zu werden, verlangen Kanadas zunehmend lautstarke Städte einen ähnlichen "Dritte Ebene"-Status. Kanadas drei nördliche Territorien begehren ihrerseits gelegentlich Provinzstatus für sich. Kanadische Frauen basieren sich bei der Betonung des "Gründergeschlechts" auf der Symbolik der "Gründer-" oder "ersten" Nationen. Zu diesem volatilen Gemisch kommt eine Strömung individueller, grundrechtsbasierter Politikansätze hinzu, die einer Politik der Gruppenidentität entgegensteht.

Die Parlamente der Föderation und der Provinzen dieses unterschiedlich und dünn besiedelten Landes werden von ihren Ersten Ministern geführt und im Rahmen eines Mehrheitswahlrechts in Wahlbezirken mit jeweils nur einem Vertreter gewählt. Die Parteien in den Parlamenten er weisen sich als hochgradig diszipliniert. Da die Wirksamkeit und der Einfluss von Regierungsmitgliedern aus weniger bevölkerten Regionen bei strenger Parteidisziplin schwer zu erkennen ist, gewinnen die Oppositionsparteien häufig regionale Proteststimmen für sich. Das Wahlsystem regionalisiert die Parteien zusätzlich dadurch, dass es den Einfluss regional gebündelter Stimmen vergrößert, so dass der Stimmenanteil einer Partei in einer Region häufig viel höher oder niedriger ist als ihr Anteil an den regionalen Stimmen insgesamt. Eine Wahlrechtsreform ist deshalb Bestandteil der laufenden institutionellen Debatte in Kanada.

Dies trifft auch für die Parlamentsreform zu. Oft wird vorgeschlagen, die Parteidisziplin im Unterhaus (House of Commons) zu verringern oder den Senat der Föderation zu reformieren. Mit der Unwandlung des Senats von einem ernannten in ein gewähltes Gremium mit einer gleichmäßigeren Vertretung der Provinzen wollen die Reformer ihn zu einem leistungsfähigeren Kontrolleur des Unterhauses machen.

Von den 60er bis in die 90er Jahre löste diese reichhaltige Palette von Problemen eine wachsende Welle von Vorschlägen für eine Verfassungsreform aus. Was als Versuch begann, die Herausforderungen des Nationalismus und Separatismus in Quebec zu meistern, wuchs zu einem Prozess so genannter mega-konstitutioneller Politik heran, in dem alle widerstrebenden Interessen und Visionen sich in immer unhandlicheren Vorschlägen umfassender Verfassungstransformationen widerspiegelten.

Aus dem Prozess der mega-konstitutionellen Politik entstand 1982 das Verfassungsgesetz (Constitution Act), das der ursprünglichen Verfassung von 1867 zwei wichtige Elemente hinzufügte: 1) ein vollständig innerkanadisches Verfahren zur Verfassungsänderung, das die Notwendigkeit beseitigte, größere Verfassungsänderungen durch das britische Parlament verabschieden zu lassen und 2) einen justiziablen Katalog von Rechten und Freiheiten. Dieser Katalog sollte nicht einfach nur Rechte und

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Freiheiten schützen, sondern er sollte durch die verfassungsrechtliche Verankerung der gemeinsamen Werte aller Kanadier auch ein Gegengewicht zur föderalen Verfassung mit ihrer Betonung der territorialen Trennung bilden.

Das Verfassungsgesetz des Jahres 1982 stellte jedoch nicht alle heiseren Stimmen im Chor der verfassungsrechtlichen Wünsche zufrieden, weil es in der Tat das von Quebec für sich beanspruchte Recht auf ein verfassungsrechtliches Veto beschränkte, an Stelle von territorialer eher individuelle Zweisprachigkeit etablierte und die Befugnisse der Föderation nicht dezentralisierte. Für Quebec bedeutete das Verfassungsgesetz von 1982 ein Schlag ins Gesicht, und es lehnte die Reform als einzige der Provinzen ab.

Zwei weitere Runden größerer Verfassungsreformen fanden statt: die von Meech Lake (1987) und die von Charlottetown (1992). Meech Lake hatte zum Ziel, "Quebec in die Verfassungsfamilie Kanadas zurückzubringen", aber es wurden Forderungen erhoben, nicht nur die Prioritäten Quebecs zu behandeln, sondern auch die der Indianer, Frauen, Minderheiten und die der anderen Provinzen. Der sich anschließende Prozess, in dem alle wichtigen Forderungen nach Anerkennung und Verfassungsänderung behandelt wurden, führte zur Vereinbarung von Charlottetown, für die bei der folgenden Volksbefragung keine Mehrheit zustande kam.

Die fehlgeschlagenen Vereinbarungen von Meech Lake und Charlottetown enthielten Bestimmungen, Quebec verfassungsrechtlich als eine "besondere Gemeinschaft" innerhalb Kanadas zu anerkennen. Dass es nicht gelang, diese Reform umzusetzen, trug dazu bei, dass das Abspaltungsreferendum Quebecs im Jahr 1995 beinahe erfolgreich gewesen wäre. Danach jedoch erloschen die separatistischen Flammen, und die allgemeine Ermattung hinsichtlich von

Verfassungsänderungen hat von weiteren Abenteuern der mega-konstitutionellen Art abgehalten.

Institutionelle Reformen sind jedoch keinesfalls vom Tisch. Die Blickrichtung hat sich einfach weg von formalen Verfassungsarrangements hin zu graduellen Änderungen durch Parlamentsentschließungen, die Gesetzgebung, Verhandlungen und die Interpretation durch das Justizwesen verschoben. Einiges von dem, was während der Meech- und Charlottetown-Episoden gefordert wurde, ist – wie die Anerkennung Quebecs als besondere Gemeinschaft, das faktische Vetorecht für Quebec bei bestimmten Verfassungsänderungen und der Fortschritt hin zu selbst regierten "First Nations" – durch diese Mechanismen erreicht worden. Einige Provinzen haben einen Wahlzyklus mit festen Amtszeiten eingeführt und damit eine

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der Machtquellen des Premierministers abgeschwächt, und sie untersuchen die Möglichkeiten für ein System des Verhältniswahlrechts.

Die Tatsache, dass diese und andere Reformvorschläge einzeln und auf den unteren Regierungsebenen vorgelegt und nicht zu mega-konstitu-tionellen Paketen zusammengeschnürt werden, scheint die Temperatur der Verfassungspolitik gesenkt zu haben. Kanada ist in den letzten Jahren einer Verfassungskrise sehr nahe gekommen. Das Land scheint jetzt ohne das Gefühl drohenden Niedergangs eine sehr volle und lebendige Vorschlagsliste für institutionelle Reformen zu besitzen. Es gibt keine Garantien in der Politik, doch könnte Kanadas Status als eine der ältesten und erfolgreichsten föderalen Demokratien in der Welt noch eine ganze Weile Bestand haben.