Vergleichende Betrachtungen

G. ALAN TARR

Die Verfassung jedes Landes ist auf gewisse Weise einzigartig, ein Spiegelbild der Geschichte, der Kultur des Landes und des Charakters der Bevölkerung. Wie die vorangehenden Artikel zeigen, bestehen jedoch auch bedeutende Gemeinsamkeiten zwischen den Verfassungen. In vielen Fällen sind die Ähnlichkeiten unter den Verfassungen Ergebnis ihrer Ausgestaltung und nicht des Zufalls. Weil das Entwerfen einer Verfassung die grundlegendste Art der politischen Entscheidung ist, sind die Autoren von Verfassungen gut beraten, sich für ihre Aufgabe die umfassendste Perspektive zu suchen. So orientieren sich Länder bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassungsordnung üblicherweise an den Erfahrungen anderer Länder, um von deren Erfolgen und Misserfolgen zu lernen und um Teile der Verfassungen zu übernehmen, auch wenn das Übernommene an die Umstände im eigenen Land angepasst werden muss. Man kann die Wichtigkeit des Prozesses des Lernens, Übernehmens und Anpassens für eine sachkundige Erwägung von Verfassungsfragen kaum überschätzen. Durch die schnappschussartige Darstellung verfassungsrechtlicher Maßnahmen und Entwicklungen in 12 föderalen Demokratien liefern diese Artikel Staatsbediensteten und Bürgern einen nützlichen Leitfaden zur Verfassungsgestaltung und Verfassungspraxis in föderalen Demokratien.

Die Gemeinsamkeiten der Verfassungen spiegeln zum Teil die Tatsache wider, dass eine Verfassung eine herausragende Rolle im politischen Leben eines Landes spielt. Sie verkörpert die fundamentalen Entscheidungen eines Landes hinsichtlich seiner Regierungsform. In Brasilien, Südafrika und den USA beispielsweise ist für die Menschen die Schaffung der Verfassung auch eine Quelle des Stolzes sowie ein Symbol der nationalen Einheit. Eine Verfassung schafft Behörden und regelt, wie diese besetzt werden. Sie weist den Behörden Befugnisse zu und gibt die Ziele vor, zu deren Erreichen politische Macht ausgeübt werden soll. In den meisten Ländern setzt sie der Machtausübung der Regierung auch Grenzen, am offensichtlichsten durch die Ausarbeitung von Rechten, die vor einer Verletzung durch die Regierung geschützt werden sollen.

54

G. Alan Tarr

Wenn ein Land ein föderales System einführt, vervielfachen sich die Aufgaben der föderalen Verfassung. Zusätzlich zu den oben erwähnten Funktionen bestimmt die Verfassung auch, welches die Teileinheiten eines föderalen Systems sind. So kann sie, wie dies in Deutschland und den USA der Fall ist, zwei Regierungsebenen schaffen, wo die Kommunalverwaltung von den föderalen Einheiten eingerichtet und kontrolliert werden. Oder sie kann wie in Nigeria, Russland und Südafrika ein dreischichtiges föderales System einführen, wo die Kommunalverwaltungen Verfassungsstatus besitzen und ihnen eine gewisse Macht garantiert wird. Oder sie kann wie in Belgiens doppelter Föderation von sprachlichen Gemeinschaften und territorialen Einheiten auch eine komplexere Version ausarbeiten.

Die föderale Verfassung entscheidet auch darüber, welche Rolle die Teileinheiten in der Struktur und bei der Führung der Bundesregierung spielen. In den meisten föderalen Systemen sind die Teileinheiten am Prozess der Verfassungsänderung beteiligt, wie dies sowohl in Australien als auch in der Schweiz durch die Notwendigkeit veranschaulicht wird, dass Verfassungsänderungen in einem Referendum von einer Mehrheit der Wähler auf nationaler Ebene sowie von einer Mehrheit der Wähler in einer Mehrheit der Bundesstaaten gebilligt werden müssen. Viele föderale Systeme sichern den Teileinheiten eine weitere Rolle zu, indem sie auf Bundesebene eine aus zwei Kammern bestehende Legislative schaffen, in der die obere Kammer (die föderale Kammer) die Teileinheiten repräsentiert und häufig auch von diesen gewählt wird. In der Tat haben Reformer, die den Föderalismus in Kanada und in Mexiko stärken wollen, eine Stärkung der Rolle der föderalen Kammer in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen gestellt. Bisher am weitesten gegangen bei der Sicherung einer angemessenen Beteiligung der föderalen Einheiten an der Regierung des Bundes ist die Schweiz. Sie hat eine aus mehreren Mitgliedern bestehende Exekutive geschaffen, die sich aus Repräsentanten aus sieben verschiedenen Kantonen zusammensetzt.

Die föderale Verfassung bestimmt auch den Spielraum, innerhalb dessen die Teileinheiten der Föderation ihre eigene Politik entwickeln können. Föderale Systeme unterscheiden sich dadurch, in welchem Maß sie den Teileinheiten gestatten, ihre eigene Regierungsform zu bestimmen, zu welchen Zwecken sie ihre politische Macht ausüben werden und welche Rechte sie schützen wollen. In Indien und Nigeria zum Beispiel verfügen die Teileinheiten über keine eigenständige Verfassung. Entscheidungen über die Struktur und Regierungsführung der Teileinheiten sind in der föderalen Verfassung (von der gesagt werden kann, dass sie die Verfassungen der unteren Ebene "beinhaltet") bzw. in der Gesetzgebung der Föderation verankert. Im Unterschied dazu schreiben und revidieren die föderalen Einheiten in Australien und den USA beispielsweise ihre eigenen Verfassungen. Bundesstaaten in Brasilien

Vergleichende Betrachtungen

und Mexiko besitzen ebenfalls einen gewissen Spielraum, um ihre Verfassungen zu formulieren und zu revidieren, aber viele Details der Regierung der Bundesstaaten werden von der föderalen Verfassung vorgeschrieben. Russland und Südafrika sind die Vorreiter besonderer Arrangements: In Russland sind einige Teileinheiten (Republiken) befugt, ihre eigenen Verfassungen zu schreiben, während andere, z.B. Regionen, nur Satzungen verfassen dürfen. In Südafrika dürfen Provinzen Provinzverfassungen einführen, sind aber nicht dazu verpflichtet, und nur eine Provinz (Western Cape) hat bisher von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Im Allgemeinen teilt die Verfassung die Macht unter der Bundesregierung und den Regierungen der Teileinheiten auf. Die in diesem Buch beschriebenen föderalen Systeme unterscheiden sich ganz erheblich im Maß ihrer Zentralisierung. Föderale Systeme, die – wie Indien und Südafrika – die Aufgabe einer sozialen und ökonomischen Transformation zu erfüllen haben, neigen dazu, die Form eines hochgradig zentralisierten Föderalismus zu wählen. Die jüngsten, zentralisierend wirkenden Reformen von Vladimir Putin in Russland sind ein Beleg für die Attraktivität dieses Modells für Länder, die sich einem fundamentalen Wandel unterziehen. Föderale Systeme dagegen, die – wie Belgien und die Schweiz – danach streben, Vielfalt in ihrer Bevölkerung zu ermöglichen, haben sich üblicherweise für einen stärker dezentralisierten Föderalismus entschieden. Offenkundig gibt es kein optimales Maß an Zentralisierung oder Dezentralisierung, die Umstände in einer Gesellschaft sollten darüber entscheiden. Nichtsdestotrotz ist es interessant, dass die Studien über Kanada, Deutschland und Nigeria in diesem Booklet alle auf Probleme hinweisen, die mit übertriebener Zentralisierung einhergehen, und die Notwendigkeit einer Abtretung von Macht betonen.

Bei der Verteilung der Kompetenzen entscheidet die Verfassung, welche Kompetenzen ausschließliches Recht einer Regierung sind und welches gemeinsame bzw. konkurrierende Kompetenzen sind. Die Föderationsverfassung definiert zudem, wie Konflikte hinsichtlich der Machtverteilung zwischen den einzelnen Regierungen gelöst werden sollen. Sowohl konkurrierende als auch getrennte Bereiche können zu Problemen führen. Wenn die Gewaltenteilung zwischen der Bundesregierung und den föderalen Einheiten erfolgt, beinhaltet die Bundesverfassung typischerweise einen Mechanismus, diese Gewaltenteilung zu überwachen, in der Regel ein Verfassungsgericht oder ein Oberstes Gericht. Die Entscheidungen dieses gerichtlichen Schiedsrichters können das föderale Gleichgewicht grundlegend verändern und dabei eine stärkere Zentralisierung der Kompetenzen fördern (wie dies in Brasilien und bis vor kurzem in den USA der Fall war) oder wie in Kanada zu stärkerer Dezentralisierung führen. Wie in der Untersuchung zur brasilianischen Verfassung ausgeführt wurde, kann eine Verfassung, die die Abgrenzung

56

G. Alan Tarr

von Bundesregierung und der Regierungen der Teileinheiten betont, unter Umständen wenig förderlich sein für die Art von zwischenstaatlicher Koordinierung, die notwendig ist Probleme zu lösen. Selbst wenn Kompetenzen geteilt werden (oder es sich um konkurrierende Kompetenzen handelt), kann dies dennoch zur Dominanz der Föderation bei der Gesetzgebung führen. Die meisten föderalen Systeme erkennen den Vorrang von Föderationsgesetzen vor denen der föderalen Einheiten an und geben damit kooperativen Regelungen eine hierarchische Form. Obwohl die Schaffung konkurrierender Gesetzgebungsbefugnisse in der Regel beabsichtigt, der Bundesregierung eine Art Rahmengesetzgebung zu ermöglichen, innerhalb dessen den Teileinheiten ein hohes Maß an Entscheidungsspielraum zugesichert wird, lässt – wie dies die Erfahrungen Russlands und Südafrikas belegen – eine detaillierte Gesetzgebung der Föderation in der Praxis wenig Raum für Initiativen der Teileinheiten. Die Tendenz hin zu einer Dominanz der Föderationsebene dürfte besonders in den Systemen ausgeprägt sein, in denen, wie in Deutschland und in Indien, die Bundesregierung die Eintreibung und Verteilung von Steuereinnahmen kontrolliert.

Die Autoren einer Verfassung können zwar die Verteilung der Befugnisse zwischen der Regierung der Föderation und den Einheiten festlegen, doch infolge der Entwicklungen in und jenseits der Landesgrenzen ist es wahrscheinlich, dass sich diese Verteilung im Laufe der Zeit verändert. Einige umfassende Faktoren haben zu Änderungen in den föderalen Verfassungen und in den föderalen Systemen, die sie definieren, beigetragen

und werden weiter dazu beitragen. Sie brachten entweder neueVerfassungen oder Änderungen innerhalb der bestehenden Vereinbarungen hervor. Aufgrund der Bestrebung föderaler Verfassungen, der Verlagerung von einer lokalen zu einer nationalen Wirtschaft und, in jüngerer Zeit, zur Globalisation gerecht zu werden und sie zu bewältigen, waren einige der wichtigsten Entwicklungen wirtschaftlicher Natur. Politische Veränderungen haben ebenfalls einen signifikanten Einfluss gehabt. Die Entwicklung der Europäischen Union hatte einschneidenden Einfluss auf die europäischen Föderationen, und die Demokratisierung hat den neuen und wiederbelebten Föderationen in Afrika, im früheren Sowjetblock und in Lateinamerika neuen Schwung verliehen. Schließlich führt das Erstarken ethnischer, sprachlicher und religiöser Gesinnung für praktisch alle föderalen Systeme zu neuen Herausforderungen in ihrem Versuch, Einheit und Vielfalt zu verbinden.

Einige reife föderale Demokratien – wie Australien und Indien – haben dauerhafte Verfassungen geschaffen, die noch keiner grundlegenden Reform bedurften. Die Vereinigten Staaten würden möglicherweise ebenfalls in diese Kategorie gehören, wenn nicht ein Bürgerkrieg und die daraus hervorgegangenen Verfassungsänderungen ihre Geschichte unterbrochen hätten. Eine andere, seit langem bestehende föderale

Vergleichende Betrachtungen

Demokratie, die Schweiz, gab sich 1999 eine neue Verfassung, wenngleich sie dabei ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen beibehielt.

Andere reife föderale Demokratien mussten sich neuen Herausforderungen ihrer verfassungsmäßigen Ordnung stellen. Deutschland musste als Folge der Wieder vereinigung mit der wirtschaftlichen Rückständigkeit der "neuen Bundesländer" fertig werden. Dies hat zu Forderungen nach einer Überprüfung der föderalen Struktur und insbesondere des Finanzausgleichssystems geführt. In Kanada führte die Zunahme separatistischer Neigungen in Quebec in den 80er und 90er Jahren zur "mega-konstitutionellen" Politik, in deren Rahmen die Kanadier eine Reihe von Vorschlägen für eine radikale Umstrukturierung ihrer Verfassung diskutierten. Obwohl letztendlich keiner dieser Vorschläge Zustimmung fand, bedeutete die Aufnahme der Charter of "

Rights and Freedoms", eines Bürger- und Menschenrechtskatalogs, im Jahr 1982 einen grundlegenden Wandel in der Verfassung Kanadas.

Andere föderale Demokratien sind mit der schwierigen Aufgabe beschäftigt, nach einer Periode der Diktatur eine dauerhafte Verfassungsordnung einzuführen. In einigen Fällen – zum Beispiel Russland im Jahr 1993 und Südafrika im Jahr 1996 – repräsentieren die neuen Verfassungen den Versuch des Landes, eine lebensfähige Demokratie zu errichten. In anderen Fällen – zum Beispiel Brasilien seit 1988 und Nigeria seit 1999 – besteht die Herausforderung darin, die Verfassungsdemokratie wiederherzustellen, nachdem andere verfassungsrechtliche Arrangements versagt haben oder abgeschafft wurden und zu Militärdiktaturen geführt haben. Der Erfolg dieser föderalen Demokratien wird von ihrer Fähigkeit abhängen, die von den Diktaturen geerbten ökonomischen Probleme und ethnischen Konflikte zu lösen.

Schließlich befinden sich einige föderale Demokratien wie Belgien und Mexiko gegenwärtig inmitten eines signifikanten Verfassungswandels, der darauf zielt, die Kompetenzen der föderalen Einheiten zu stärken. In Belgien will man jedoch sicherstellen, dass die Abgabe von Macht an die föderalen Einheiten nicht zu einer ethnisch-sprachlichen Spaltung führt, die die Auflösung des Landes zur Folge hätte. In Mexiko besteht das Ziel darin, dem Föderalismus nach einem langen Zeitraum der Dominanz durch die von einer Partei kontrollierte Bundesregierung neues Leben einzuhauchen. Was auch immer das Ergebnis dieser Anstrengungen sein mag, es besteht kein Zweifel, dass sie den Bürgern, die begierig sind zu erfahren, wie andere Länder diese Probleme und Anliegen angegangen sind, zweifellos als Leitlinien – oder als Hinweise zur Vorsicht – dienen werden.