Schweiz: Eine alte Demokratie konfrontiert mit neuen Herausforderungen

NICOLAS SCHMITT

Die erste Verfassung der "modernen" Schweiz aus dem Jahr 1848 ist nach der Verfassung der USA die zweitälteste föderale Verfassung der Neuzeit. Mit ihrer Verabschiedung konnte eine Periode der Unsicherheit beendet werden, in der die Schweiz eine Reihe von Regierungssystemen ausprobiert hatte. Die Schweizer Verfassung ist den Wünschen und Erwartungen der Bürger gerecht geworden. Allerdings haben einige der Gründe, die zu ihrem Erfolg beigetragen haben, – beispielsweise die hochdemokratischen Entscheidungsprozesse und die Förderung der Vielfalt im Land – nun zu einer Reihe neuer Probleme geführt.

Bis 1798, als die Invasion Napoleons das Land in eine einheitliche und unteilbare Republik nach dem Vorbild Frankreichs umwandelte, war das Land ein loser Staatenbund souveräner Kantone. Nach fünf Jahren Aufruhr und Rebellion war der Kaiser gezwungen, die dezentrale Struktur der Schweiz wiederherzustellen. Im Anschluss an den Wiener Kongress erhielten die Kantone ihre volle Souveränität zurück. In der Zeit der Industriellen Revolution jedoch wurde die in einer losen Konföderation

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verbundene große Zahl von Mikrostaaten so unregierbar, dass es zu einem kurzen Bürgerkrieg zwischen den konservativ-katholischen Sezessionisten (dem Sonderbund) und den liberal-protestantischen Kantonen kam.

Bei der Entscheidung, ein föderales System in seiner Verfassung zu verankern, stützte sich das Land auf seine große Erfahrung. Es war das einzige System, das erfolgreich 25 Kantone (heute 26) mit solch extrem unterschiedlichen Merkmalen vereinen konnte. In der Tat ist dieses Land, dessen Territorium weniger als ein halbes Prozent der Fläche der USA ausmacht, die Heimat von vier Landessprachen, drei großen Regionen und zwei wichtigen Religionen, ohne die sozialen Unterschiede zwischen den

Kantonen zu erwähnen. Die Einführung eines

föderalen Systems setzte die Tradition eines dezentralen Systems fort, das seit 1291 existierte, als sich die ersten Kantone in einer Union zusammenschlossen. Deswegen wurde auch der frühere Name des Landes, die Schweizer"

Eidgenossenschaft", beibehalten, obwohl die Schweiz heute ein Bundesstaat und kein Staatenbund ist. Die Verfassung erfüllte eine komplizierte Integrationsfunktion. Durch ihre Verpflichtung auf Vielfalt schaffte sie auf einem Staatsgebiet, das für die Schaffung eines Nationalgefühls denkbar ungeeignet ist, eine

Willensnation, das heißt ein Land, das allein durch den Willen seiner Bürger, zusammenleben zu wollen, entstanden ist.

Wie ihr amerikanisches Pendant beendete auch die Schweizer Verfassung das unbefriedigende System der Konföderation. Ebenfalls wie die amerikanische Verfassung schuf sie ein aus zwei Kammern bestehendes Parlament, von denen eine, der Ständerat, die Kantone repräsentiert und sich aus je zwei Vertretern jedes Kantons zusammensetzt. Und so wie die amerikanische Verfassung hat sie die langfristige Prüfung der Zeit bestanden. Obwohl die Verfassung zweimal umfassend reformiert wurde, ein erstes Mal im Jahr 1874 und ein zweites Mal im Jahr 1999, und mehr als 120 von der Mehrheit der Bundes und einer Mehrheit der Kantone beschlossene Verfassungszusätze hinzugefügt wurden, blieben die ursprünglich verankerten Institutionen und Verfahren praktisch unverändert. In mehreren Punkten weicht die Schweizer Verfassung allerdings auch von der amerikanischen Verfassung ab, weil sie die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen und innerhalb der Kantone mit einbinden musste. Dazu schafft die Schweizer Verfassung mit dem so genannten Bundesrat eine einzigartige kollektive Exekutive, die aus sieben Mitgliedern besteht. Sie stammen jeweils aus unterschiedlichen Kantonen und werden von beiden Kammern des Parlaments für vier Jahre gewählt. Der Bundesrat ermöglicht die

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Repräsentation der Mannigfaltigkeit des Landes. Der Bundespräsident der Schweiz ist Mitglied des Bundesrates und wird vom Parlament für die Amtsdauer von einem Jahr gewählt.

Das Schweizer System hat dem Land seit 1848 Stabilität gebracht, ohne es gegen Innovationen abzuschotten. Auf subtile Art und Weise hat es die Macht unter den seit langem an ein System der Kantone und Gemeinden und der direkten Demokratie gewohnten politischen Akteuren im Land aufgeteilt. Die direkte Demokratie bringt die Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen der Regierung mit sich, meistens durch Volksbefragungen und Referenden, gelegentlich auch durch direkte Abstimmungen über Gesetzesvorhaben. Auch wenn einige Befugnisse des Bundes erweitert wurden, bleiben sie durch den Föderalismus und die direkte Demokratie beschränkt, was die Schweiz zu einem der demokratischsten Länder der Welt macht.

Der Preis für diese Erfolge besteht jedoch in der kontinuierlichen Suche nach einem Konsens aller Parteien, was zu einem schwerfälligen und komplizierten Entscheidungsprozess führt, in dem Kompromisse nicht als Schwäche sondern als Wert betrachtet werden. Obwohl die Verfassung die Schweiz sicher durch die internationalen Kriege und die sozialen Unruhen des 20. Jahrhunderts leitete, hat das beginnende 21. Jahrhundert an bisher für sicher gehaltenem gerüttelt. Es könnte der Eindruck entstehen, die politische Führung habe sich darauf konzentriert, das interne Gleichgewicht der Institutionen aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die ökonomischen und internationalen Herausforderungen hinsichtlich der Globalisierung sowie der Migration von Ausländern und Asylsuchenden aus den Augen verloren.

Die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedsländern in die Europäische Union am 1. Mai 2004 machte die Schweiz mehr als je zuvor zu einer Insel, oder einem Loch, im Herzen des Kontinents. In der Folge unterzeichneten die Schweizer Behörden und die Europäische Union (EU) im Mai 2004 eine Reihe von bilateralen Abkommen. Der Umfang und die Komplexität dieses Prozesses verdeutlichte nicht nur, wie schwierig bilaterale Verhandlungen sind, sondern auch wie abhängig die Schweiz von der EU ist.

Dies ist jedoch nicht das Einzige, was die berühmte Stabilität des Landes gefährdet. Die im Oktober 2003 abgehaltenen Bundeswahlen signalisierten sowohl einen Rechtsruck als auch eine Polarisierung im politischen Klima des Landes. Die Wahlen führten zur ersten Änderung der Parteienzusammensetzung im Bundesrat seit 1959, der bis dahin so fest gefügt war, dass die Grundlage für die Vertretung durch die Parteien als "magische Formel" bezeichnet wurde. Die daraus resultierende Änderung des Parteiengleichgewichts in der Regierung führt nun zu Fragen nach dem Verhältnis des Bundesrats zum Parlament und danach, ob der Bundesrat direkt vom Volk gewählt und nicht mehr durch das Parlament bestimmt werden sollte.

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Ein weiterer Streitpunkt ist die Entscheidung der deutschsprachigen Kantone, Englisch dem Französischen als Pflichtfach in der Schule vorzuziehen, da dies den nationalen Zusammenhalt untergraben könnte.

Verfassungsrechtler, Politiker und nicht zuletzt auch die Bürger werden in den kommenden Jahren damit beschäftigt sein, Lösungen für diese großen politischen Herausforderungen zu finden. Denis de Rougemont, einer der führenden europäischen Wissenschaftler auf dem Gebiet des Föderalismus im 20. Jahrhundert, pries das Schweizer Modell dafür, dass es "zufriedene Menschen" geschaffen und die nationale Einheit durch die Förderung ihrer Verschiedenheit erreicht habe. Aber werden die komplexen Entscheidungsprozesse zur Konsenserzielung unter den unterschiedlichen Gruppen der Schweiz zu einer Lösung führen oder werden sie sich selbst als das größte Problem erweisen?