Deutschland: Überschneidung der Kompetenzen und politische Verwicklungen

JUTT A KRAMER

Die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949, vier Jahre nach Deutschlands Niederlage im 2. Weltkrieg, gegründet. Mit der Absicht das Wiederaufleben eines starken Zentralstaates in Deutschland zu verhindern hatten die West-Alliierten den Ministerpräsidenten der Bundesländer den Auftrag zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung mit bundesstaatlichem Gepräge gegeben. Die entstandene bundesstaatliche Ordnung ist durch wechselseitige Abhängigkeiten und sich überschneidende Kompetenzen der Bundesregierung und der einzelnen Bundesländer gekennzeichnet.

Die gegenwärtigen Herausforderungen der bundesstaatlichen Struktur Deutschlands beinhalten die Fragen, ob das System in seiner jetzigen Form einen adäquaten verfassungsrechtlichen Rahmen für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern bereitstellt, ob es die demokratischen Erfordernisse hinreichend gut erfüllt und – gegenwärtig die am wichtigsten Frage – ob das System nicht nur in der Lage ist, die Lasten der deutschen Einheit mit ihren politischen, ökonomischen und verfassungsrechtlichen Folgen zu tragen, sondern ob es diese auch zu überleben vermag.

24

Jutta Kramer

Das Grundgesetz, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, wurde in den Jahren 1948 und 1949 vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitet und verabschiedet. Es ließ ein bundesstaatliches System wieder aufleben und unterscheidet drei verschiedene Ebenen der Staatsgewalt: den Bund, die Bundesländer und die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes. Im Zusammenhang mit der Frage, ob für die internationalen Verträge und Verpflichtungen des Deutschen Reichs ein Rechtsnachfolger existierte und wer das sein könnte, stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass es keinen allgemeingültigen Rahmen für solch einen alleinigen Rechtsnachfolger "Bundesrepublik Deutschland" gebe, sondern lediglich zwei Rechtssubjekte: den Bund und die Bundesländer. Mit dieser Entscheidung des Gerichts endete die fortdauernde Diskussion über die Art der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland. Wie die Mehrheit der Bundesstaaten besteht auch das deutsche System aus einer zweitstufigen Ordnung.

Trotz des dualen Charakters des deutschen föderalen Systems führen die verfassungsrechtlichen Beziehungen innerhalb und zwischen den beiden Einheiten zu drei verschiedenen Rechtsbeziehungen, und zwar den Beziehungen innerhalb des Bundes, zwischen Bund und Ländern und zwischen den einzelnen Bundesländern. Folglich haben sowohl der Bund als auch jedes einzelne Bundesland ihre eigene verfassungsrechtliche Zuständigkeit, die sie intern als verfassunggebende Gewalt ausüben. Extern hat jeder das Recht zwischenstaatliche Beziehungen mit dem Bund und den einzelnen Bundesländern zu unterhalten. Der einzige Kohäsionsmechanismus für die drei Verfassungsebenen ist die so genannte Homogenitätsklausel, die die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern anhält, die im Grundgesetz verankerten Prinzipien des demokratischen Sozialstaats und der Rechtstaatlichkeit anzuwenden. Abgesehen von dieser Klausel existieren die drei Verfassungsbereiche völlig unabhängig voneinander.

Wie in jeder echten bundesstaatlichen Regierungsform gibt es auch im deutschen System nicht eine einzige Arbeitsbeziehung zwischen dem Bund und den Ländern sondern ein facettenreiches Beziehungsnetz: formell und informell, bilateral und multilateral, individuell und kollektiv. Im Zentrum der föderalen Struktur Deutschlands befindet sich der Bundesrat als zweite Kammer des Bundes. Im verfassungsrechtlichen Sinne und in der Praxis ist er das Gesetzgebungsorgan, das die Bundesländer innerhalb des föderalen Rahmens repräsentiert und auch bei der Bundesverwaltung mitwirkt. Die unmittelbare Koordinierung erfolgt in Form einer horizontalen Kooperation zwischen den einzelnen Bundesländern auf der Basis interstaatlicher Beziehungen.

In diesem dreidimensionalen Verfassungsrahmen hat die Bundesebene Vorrang vor den Bundesländern, wie dies in dem Titel "obere staatliche Ebene" zum Ausdruck kommt. Sie ist auch dafür verantwortlich, die

Deutschland

Verfassung des Bundes zu bewahren. Dennoch sind die einzelnen Bundesländer "Staaten" im vollen Wortsinn, die ihre eigene unmittelbare Ver fassungshoheit genießen, unabhängig eigene Funktionen und Kompetenzen wahrnehmen und ihre Aufgaben als eigener, verfassungsgestützter Bereich erfüllen. Deshalb sind die Beziehungen zwischen dem Bund und den Ländern und diejenigen zwischen den einzelnen Ländern von den Prinzipien der Gleichheit und Gleichberechtigung getragen, es sei denn, das Grundgesetz erlaubt oder schreibt anderes vor. Jedes Bundesland hat – unabhängig von seiner Größe, Einwohnerzahl, wirtschaftlichen Stärke und Finanzkraft – in der Verfassung den gleichen föderalen Status.

Die föderalen Systeme in Deutschland und in den USA weisen beide klare Tendenzen zu Einheitlichkeit und Zentralisierung auf. Aber es gibt drei zweifelsfreie Unterschiede: Erstens wurde die Entwicklung eines einheitlichen Föderalismus in Deutschland von den mächtigsten Organen der Bundesregierung, von der direkt gewählten ersten Kammer des Parlaments, dem Bundestag, und von der zweiten Kammer, dem Bundesrat, vorangetrieben. Sie haben sich konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen übertragen, indem sie die Verfassung zu einem Zeitpunkt ergänzten, als sie die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments hatten. Zweitens wird in der politischen Realität die effektivste Gewaltenteilung durch die Verwaltungen der Bundes- und der Länderebene praktiziert, die damit Aspekte eines Exekutivföderalismus aufweisen. Das bedeutet in der Praxis, dass sich die Bundesregierung als Hauptgesetzgeber den größten Anteil der konkurrierenden Gesetzgebung angeeignet hat, während die Länder, die nicht nur ihre eigenen Gesetze sondern auch eine Vielzahl von Bundesgesetzen ausführen, vor

allem als Verwaltungsorgane arbeiten. Drittens existieren mit den Gemeinschaftsaufgaben und den Gemeinschaftssteuern, die Bund und Ländern zustehen, ein hohes Maß an Kompetenzüberschneidungen, Politikverflechtungen und Verfahren der Konsensfindung – ein Charakteristikum des kooperativen Föderalismus.

Das System des kooperativen Föderalismus hat sich jedoch nicht nur in der Praxis als lähmend erwiesen, sondern es ist auch unter demokratischen Gesichtspunkten problematisch. Wenn jeder für alles verantwortlich ist, führt das dazu,

dass niemand für irgendetwas verantwortlich ist. Aus diesem Grund wird oft diskutiert, ob mit Reformen mehr Transparenz im Hinblick auf die Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten geschaffen werden sollten und ob ein intensiverer Wettbewerb zwischen der Bundesregierung und den Ländern zugelassen werden sollte. Noch ist

26

Jutta Kramer

Deutschland jedoch weit von einem System des wettbewerblichen Föderalismus entfernt.

Nach 45 Jahren durch den kalten Krieg bedingter politischer Ost-West-Teilung Deutschlands erfolgte 1990 die deutsche Wiedervereinigung. Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) trat nach ihrem politischen und wirtschaftlichen Kollaps dem Hoheitsgebiet des Grundgesetzes bei. Im Prozess der Wiedervereinigung entschied das Land, dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf die traditionellen Strukturen in Ostdeutschland zurückgreifen sollte, um die früheren Bundesländer als Basis für die Implementierung eines föderalen Systems wiederherstellen zu können. Vor diesem Hintergrund wurden die neuen Länder""

geschaffen. Die Reform des föderalen Systems wurde entsprechend auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Es gilt als sicher, dass der Bundesstaat die neu eingegliederten ostdeutschen Bundesländer noch lange und massiv subventionieren muss. Obwohl das Problem seit langem bekannt ist, stellt es in den nächsten Jahren eine ernsthafte Gefahr für die Entwicklung des föderalen Systems dar. Diese Situation könnte zu einer längeren Periode der Zentralisierung des deutschen Föderalismus führen, wie es sie in den Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik bis zur Finanzreform in den Jahren 1966 bis 1969 bereits einmal gab.