Indien: Die Entstehung des kooperativen Föderalismus

AKHT AR MAJEED

Die Verfassung Indiens sah einen schöpferischen Ausgleich zwischen einer leistungsfähigen Zentralgewalt und Bundesstaaten mit mehr Entscheidungsbefugnissen vor. Das daraus entstandene föderale System gab einen soliden Rahmen vor für das Funktionieren des indischen Staates. Trotz Problemen bei der Aufrechterhaltung der Machtbalance hat das System überlebt.

Indien ist ein Land von der Größe eines Kontinents mit einer Fläche von 12.650.000 Quadratmeilen und einer Bevölkerung von über einer Milliarde Menschen. Es ist eine vielfältige Gesellschaft mit 18 nationalen Sprachen und etwa 2.000 Dialekten, zwölf ethnischen und sieben religiösen Gruppen, die sich in eine große Zahl von Sekten, Kasten und Unterkasten aufteilen, sowie etwa 60 soziokulturellen Teilregionen, die sich über sieben natürliche geografische Zonen erstrecken. Vor der Unabhängigkeit im Jahr 1947 stand Indien zuerst unter der Herrschaft der British East India Company, dann für zwei Jahrhunderte unter der Herrschaft der britischen Krone.

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Von 1946 bis 1950 hatten die Anführer der indischen Freiheitsbewegung die Aufgabe, eine Verfassung zu entwerfen. Die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung verfolgten zwei Ziele: Das erste bestand darin, aus der hochgradig fragmentierten und segmentierten Gesellschaft ein einheitliches Staatswesen zu formen, was durch eine Stärkung der "Union", also der Bundesebene, geschah, der zusätzliche Befugnisse übertragen wurden. Das zweite Ziel bestand darin, zur Entwicklung des stark unterentwickelten Landes die Armut und das Analphabetentums zu bekämpfen und einen modernen Nationalstaat zu errichten. Dies führte mit 395 Abschnitten, 12 Zusatzartikeln und 3 Anhängen zur längsten Verfassung der Welt.

Die Verfassung etabliert eine "Union von Bundesstaaten", die mittlerweile aus 28 Bundesstaaten und sieben "Unionsterritorien" besteht. Sie definiert zudem die Befugnisse der Exekutive, der Legislative und des Rechtswesens, und sie setzt einen Standard, mit deren Hilfe die Rechtmäßigkeit der von der Legislative in Kraft gesetzten Gesetze geprüft wird. Die Hüterin der Verfassung ist die Justiz. Die im Allgemeinen flexible Verfassung ist unnachgiebig in vielen "föderalen" Angelegenheiten, die die einzelnen Bundesstaaten betreffen. In der Sorge, dass stark zentrifugale Kräfte Indien spalten könnten, schafft die Verfassung ein relativ zentralisiertes Staatswesen, in dem die Unionsregierung mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet ist, nicht nur ihre Vormachtstellung zu sich

ern, sondern auch ihre Fähigkeit in unitarischer

Weise zu regieren, wenn es politisch möglich und notwendig ist.

Ebenso wichtig ist, dass die Vielfältigkeit des Landes und der sozioökonomischen Bedingungen sowie ideologische Einflüssen des Sozialismus die Verfassung im Namen der Gerechtigkeit, der Gleichheit und des Schutzes der Rechte in Richtung eines stärker unitarischen Föderalismus drängten. Viele der Gründer dachten, dass nur eine starke Zentralgewalt die wirtschaftliche Entwicklung wirksam vorantreiben und Gerechtigkeit über alle Hoheitsgebiete, Religionen, Sprachen, Klassen und Kasten hinweg sicherstellen könne. Von der Unabhängigkeit bis in die 80er Jahre gab es infolgedessen unter der

Kongresspartei einen Trend zu immer stärkerer Zentralisierung. Während der 80er Jahre machte sich jedoch eine Verbitterung der Beziehungen zwischen der Union und den einzelnen Bundesstaaten bemerkbar, und die Kongresspartei begann an Einfluss zu verlieren. Nach den Wahlen im Jahr 1989 übernahm eine Koalitionsregierung, die Nationale Front, die Macht in Neu Delhi. Der Machtwechsel

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begründete sich zum Teil darin, dass der während etwa 40 Jahren von einer Monopolpartei betriebene zentralisierte Föderalismus es nicht vermocht hatte, die in der Verfassung gesetzten Ziele zu erreichen. Seit 1989 haben die Koalitionsregierungen auf der Unionsebene, die im ganzen Land stark zunehmenden Regional- und Bundesstaatsparteien sowie die Liberalisierung der Wirtschaft das föderale politische System in vielerlei Hinsicht dezentralisiert.

Trotzdem ist die Meinung weit verbreitet, dass die Mechanismen der zwischenstaatlichen Beziehungen in Indien stark zugunsten der Zentralregierung verzerrt sind. Die von den Gründern vorgesehene starke Zentralgewalt hat ihre eigenen Probleme geschaffen.

Artikel 356, die "Präsidentenregel", gemäß dem auf Verlangen der Zentralregierung das Parlament eines Bundesstaates wegen verfassungswidrigen Verhaltens aufgelöst oder beurlaubt werden kann, ist zu einem der heißesten Themen der indischen Verfassungsdebatte geworden. Er wurde für Notfälle erlassen, in denen die Regierung eines Bundesstaates nicht in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Verfassung handelt. Die Zentralregierung ist jedoch das einzige Organ, das ein solches Verhalten beurteilen kann. Es entstand der Eindruck, dass die Präsidentenregel in der Vergangenheit häufig undifferenziert angewendet wurde. Deshalb werden jetzt Maßnahmen zum Schutz vor zukünftigem Missbrauch ergriffen.

Das Ungleichgewicht zwischen den Steuerbefugnissen der Union und den einzelnen Bundesstaaten ist angesichts der den beiden Ebenen zugewiesenen sozioökonomischen Aufgaben ein weiteres Beispiel für die übermäßige Zentralisierung. Die Verfassung definiert bis ins Einzelne die Gesetzgebungs- und Verwaltungsbeziehungen zwischen der Union und den einzelnen Bundesstaaten sowie die Aufteilung der Einnahmen. Im Vergleich zu den meisten anderen föderalen Verfassungen wurde der Union mehr Spielraum zur Ausübung der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt eingeräumt.

Ein ähnliches Ungleichgewicht bei den Einnahmen und Verantwortlichkeiten wie zwischen der Union und den Bundesstaaten existiert auch zwischen der Ebene der Bundesstaaten und den Gemeinden. Zwar gewährt die Verfassung den Gemeinden Verfassungsrang, deren "autonomes" Funktionieren muss in der Praxis jedoch erst noch umgesetzt werden. Den in ländlichen Gegenden als "Panchayats" bekannten kommunalen Institutionen fehlen die finanzielle Rückendeckung und das notwendige Wissen, um ihren Einfluss zu steigern. Ein Erfolg konnte allerdings mit der Gemeindeordnung erzielt werden: Da die Verfassung eine bestimmte Zahl von Sitzen für Frauen und spezifische Kasten und Stämme reserviert, waren diese traditionell benachteiligten Gruppen in der Lage Erfahrungen zu sammeln, die sie zur politischen Partizipation auf der Bundesstaaten- oder Unionsebene befähigt.

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Die indische Verfassung scheint eher eine kooperative Union als ein duales Staatswesen zu schaffen. Das Vorhaben, die nationalen Ressourcen zu mobilisieren und sie möglichst effektiv und ausgeglichen für die soziale und ökonomische Entwicklung des ganzen Landes einzusetzen, scheint heute ein integraler Bestandteil dieses Konzeptes zu sein. Durch die Allokation von Finanzmitteln und die Zentralisierung der Planung konnte die Union ihre Rolle in Bereiche ausdehnen, die ausschließlich Domäne der einzelnen Bundesstaaten waren. Die Umverteilung von Verantwortlichkeiten – die Union trat Befugnisse an die Bundesstaaten ab, die Bundesstaaten wiederum an die Panchayats – konnte anderseits das Erreichen der Verfassungsziele Einheit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie erleichtert werden. All dies deutet auf Schritte in die Richtung eines kooperativen Föderalismus.