Forum book 1 german 6/28/07 2:39 PM

Der mexikanische Föderalismus im demokratischen Wandel

JUAN MARCOS GUTIÉRREZ GONZÁLEZ

Die Geschichte des mexikanischen Föderalismus war während des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen eine Geschichte der Zentralisierung. Erst ab ungefähr 1982 wurde diesem Prozess durch politische Maßnahmen und Forderungen nach Dezentralisierung der Regierungsaufgaben, politischer Demokratisierung und ökonomischer Liberalisierung entgegengewirkt. In den Bestimmungen der gegenwärtigen Verfassung, der Verfassung von 1917, werden deutlich wichtige Probleme und Fragen angesprochen, die in Mexiko in der Vergangenheit Anlass zur Sorge boten und auch heute noch relevant sind. Zu diesen zählen unter anderem die Macht des Präsidenten, sich über Entscheidungen hinwegzusetzen, die Dezentralisierung und die Schaffung eines wirklich föderalen Systems. Heute bemüht sich Mexiko darum, seine eigene Version des Föderalismus zu definieren und die zentripetalen Kräfte, die das Leben der Nation dominiert haben, zu neutralisieren.

Mexiko hat eine lange Tradition des Zentralismus, die in die Kolonialzeit und bis zu den Kulturen der Azteken und der Maya zurückreicht. Zwar besaßen die Gestalter bei der Schaffung der ersten föderalen Verfassung Mexikos im Jahr 1824 keine verbindende Vision der Föderation, sie

Forum book 1 german 6/28/07 2:39 PM

32

Juan Marcos Gutiérrez González

wussten doch, was sie zu vermeiden hofften. Zu den Gründen für die Schaffung einer Verfassung und die Einführung eines föderalen Systems zählte die Absicht, durch ein System von

Gewichten und Gegengewichten zwischen der Regierung und dem Volk den Absolutismus zu beenden und den Bundesstaaten eine repräsentative Regierung zu geben.

Die gegenwärtige Verfassung Mexikos ist zwar noch relativ jung, ihre föderalen Prinzipien stammen jedoch direkt aus der ersten Verfassung von 1824. Von 1836 bis 1854 hatte Mexiko allerdings eine zentralistische Verfassung; die Erfahrungen mit dieser Verfassung führten jedoch zu einem

erneuten Erstarken föderalistischer Ideen, die ihren Höhepunkt in der föderalen Verfassung von 1857 fanden. Diese Verfassung, der es nicht gelang, die Zentralisierung einzudämmen, behielt ihre Gültigkeit, bis das Ende der mexikanischen Revolution zur noch heute gültigen Verfassung von 1917 führte.

Die Sieger der mexikanischen Revolution hatten klare föderale und demokratische Ziele, zum Teil deshalb, weil die Revolution in einigen Bundesstaaten als eine Rebellion gegen das zentralistische und diktatorische Regime von Porfirio Diaz begann. Im föderalen Modell der Verfassung sind Legislative und Judikative der Bundesebene in Wirklichkeit jedoch der allumfassenden Macht der Exekutive untergeordnet. Von 1920 bis 1995 wurde das föderale System durch eine verfassungsrechtliche Konzentration der Macht in den Händen der Zentralregierung charakterisiert, was die Entscheidungsbefugnisse der einzelnen Bundesstaaten und der Gemeinden erheblich einschränkte. Dieses System brachte ein soziopolitisches Phänomen hervor, das Mexikos politisches Leben im gesamten 20. Jahrhundert charakterisierte: ein mächtiges Präsidialsystem.

Eine einzige Partei, die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), behielt eine beinahe monopolartige Kontrolle über das politische Leben des Landes. Von 1929, dem Jahr ihrer Gründung, bis 1989 stellte die PRI den Präsidenten und beherrschte den Kongress der Union, die Regierungen der 31 Bundesstaaten, den Bundesdistrikt und die meisten der 2.448 lokalen Regierungen. Erst im Jahr 2000 verlor die PRI erstmalig die Präsidentschaftswahlen. Zuvor hatten die Oppositionsparteien bereits die Kontrolle über etliche Regierungen der Bundesstaaten und der Gemeinden übernommen.

Gegenwärtig treten politische Ereignisse in Mexiko ein, die das Land noch nie zuvor gesehen hat: Neu entstehende Gemeindeverbände und die so genannte Nationalkonferenz der Gouverneure (Conago) fordern und fördern die Rückgabe der in sieben Jahrzehnten verlorenen politischen und finanziellen Autonomie. Ihre Agenda besteht hauptsächlich darin,

Forum book 1 german 6/28/07 2:39 PM

Mexiko 33

das Thema des fiskalischen Föderalismus anzusprechen. Zusätzlich ist ein zunehmender Aktivismus der Gesetzgeber in beiden Häusern des Kongresses zu beobachten: Die verschiedenen Vorschläge für eine Verfassungsreform setzen zwar unterschiedliche Schwerpunkte, verfolgen aber alle die Absicht, das föderale Modell neu zu überdenken. Einige der Vorschläge ziehen es in Erwägung, die Macht des Präsidenten der Republik zu beschränken – möglicherweise sogar in erheblichem Umfang

und die Vorstellung von Mexiko als einer föderalen Republik durch eine klarere Spezifizierung der drei Regierungsebenen zu stärken.

Die Struktur der Verfassung sieht die Teilung der drei Gewalten (Exekutive, Legislative und Judikative) und drei Regierungsebenen (Bundesebene, Bundesstaaten und Gemeinden) vor. Während die Verfassung ein föderales System mit erheblichen Befugnissen schaffte, die im Prinzip den Bundesstaaten zugeordnet waren, führte sie auch einen hochgradig säkularen Wohlfahrtsstaat ein, der sich weitgehend unter der Kontrolle der Zentralregierung befindet. Deren Befugnis, in Angelegenheiten wie Binnen- und Außenhandel, Landwirtschaft, Lebensmittelversorgung, Arbeit, Gesundheitswesen, Bildung und Energie zu intervenieren, förderte die Zentralisierung; ihr Eigentumsrecht an Land und natürlichen Ressourcen ermöglichte eine hochgradig nationalisierte Volkswirtschaft. Die Merkmale des mexikanischen Systems ähneln denen eines kooperativen Föderalismus, der jedoch in der Praxis letztendlich die Bundesebene zum Nachteil der Bundesstaaten und der Gemeinden stärkt und damit den Föderalismus selbst untergräbt.

Die in der Verfassung weder eindeutig noch ausreichend beschriebene Verteilung der konkurrierenden innerstaatlichen Befugnisse und Aufgaben hat zu Unsicherheit, Konflikten und Duplizität geführt und die Zentralisierung großer Bereiche des öffentlichen Lebens verursacht. Befürworter einer Verfassungsänderung haben argumentiert, dass die Verantwortlichkeiten des Bundes, der Bundesstaaten und der Gemeinden neu definiert und in der Verfassung aufgeführt werden sollten.

Eine andere fortdauernde Debatte in Mexiko dreht sich um die Frage, ob der Senat reformiert werden sollte, damit er zu einer wirklichen Vertretung der Bundesstaaten wird, und ob mehrere oder alle seiner Mitglieder auch der Legislative der einzelnen Bundesstaaten angehören sollten.

Ein letzter Punkt sollte berücksichtigt werden: Eine der wesentlichen Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, damit der Föderalismus angemessen funktioniert, besteht darin, allen Regierungsebenen die Möglichkeit zu geben, den überwiegenden Teil der von ihnen benötigten Finanzmittel selbst zu erwirtschaften. Ein solcher Schritt würde die finanzpolitische Zentralisierung beenden, die zu einer beinahe vollständigen Abhängigkeit der Bundesstaaten und der Gemeinden von Transfers des Bundes geführt hat.