Nigeria: Die Notwendigkeit eines guten Regierungssystems

IGNA TIUS AKAA Y AR A YUA

Nigeria wurde 1900 in Form der britischen Protektorate Nord- und Süd-Nigeria und der Kolonie Lagos gegründet. 1914 wurden diese Einheiten unter einer einheitlichen britischen Verwaltung zusammengefasst. Nigeria wurde daraufhin bis 1954 als einheitlicher Staat regiert. Den Studenten des europäischen Imperialismus muss dies bekannt vorkommen: Nigeria, ein neuer Staat, der nicht durch den freiwilligen Zusammenschluss bereits bestehender, eng verbundener und frei verhandelnder politischer Einheiten entstanden ist, sondern einem willkürlich abgegrenzten Territorium verschiedener Völker, die füreinander bis dahin praktisch Fremde waren, durch eine Kolonialmacht aufgezwungen wurde. Im Kontext der Entstehung der nigerianischen Föderation lassen sich einige der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Herausforderungen Nigerias (beispielsweise die Verteilung der Befugnisse, die Einnahmenaufteilung, ein einheitliches Rechtswesen und die "indigenen" Rechte) zum Teil mit dem Fehlen förderlicher Rahmenbedingungen für glaubwürdige Verhandlungen über die Beziehungen zwischen der Föderation und den Bundesstaaten erklären.

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Obwohl Nigeria 40 Jahre lang formal als einheitlicher Staat regiert wurde, bestand es aus drei sehr unterschiedlichen Verwaltungsregionen: der von den Yorubas beherrschten Westlichen Region, der von den Igbos beherrschten Östlichen Region und der riesigen Nördlichen Region, wo die Klasse der Hausa-Fulani des Sokoto-Kalifats des 19. Jahrhunderts herrschte. Als Nigeria durch die so genannte Lyttleton-Verfassung von 1954 in eine Föderation umgewandelt wurde, stellten diese drei Regionen die Einheiten der Föderation. Die letzte verfassungsmäßige Verfügung Großbritanniens bezüglich Nigerias – die Unabhängigkeitsverfassung von 1960 – behielt diese föderale Struktur bei. Aber seit der Unabhängigkeit ist das Land weitere fünf Mal geteilt worden. Es umfasst jetzt insgesamt 36 Bundesstaaten und das Territorium der Bundeshauptstadt Abuja.

Nigerias Geschichte nach der Unabhängigkeit ist durch zwei lange Perioden der Militärherrschaft gekennzeichnet – von 1966 bis 1979 und von 1984 bis 1999. Die beiden maßgeblichen Verfassungen nach der Unabhängigkeit – die Verfassungen von 1979 und 1999 – wurden dem Land von den Militärmachthabern aufgebürdet, bevor diese die Macht an die Zivilisten zurückgaben.

Die Verfassung von 1979 führte große Veränderungen ein in der Art und Weise, wie Nigeria regiert wurde. Sie ersetzte den von Großbritannien geerbten Kabinettsstil durch ein Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild, setzte die Gemeindeverwaltungen als

dritte Regierungsebene ein und förderte eine widerstandsfähige föderale Struktur, um durch die Bekräftigung der Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen Nigerias die ethnischen Spannungen abzubauen. Die gegenwärtige Verfassung, die am 29. Mai 1999 in Kraft trat, war das Ergebnis eines von der Militärregierung des Generals Abdusalami Abubakar eingeleiteten Übergangsprozesses. Mit der Ausnahme geringfügiger Anpassungen ist die Verfassung von 1999 identisch mit der Verfassung von 1979. Die Verfassung von 1999 hat alle nachkolonialen Vorgängerinnen übertroffen und ist nun seit

mehr als fünf Jahren in Kraft. 2003 hat sie ihre erste größere Prüfung überstanden: landesweite allgemeine Wahlen, die zu erheblichen Änderungen in der Zusammensetzung der Legislative auf der Ebene der Föderation und der Bundesstaaten und zu neuen Regierungen in vielen Bundesstaaten und Gemeinden führten.

Trotz der Versuche der Gestalter der Verfassung, föderale Strukturen fest zu verankern, ist noch immer eine Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Zentralregierung zu beobachten. Zwei wichtige Faktoren sind dafür verantwortlich: die langen Zeiträume einer einheitlichen militä

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rischen Herrschaft und die Kontrolle der wichtigsten ökonomischen Ressource, des Öls, durch die Zentralgewalt. Die Stärke der Zentralregierung hat bei denjenigen, die glauben, dass die Bundesstaaten zu schwach sind, tiefe Abneigung hervorgerufen. Viele sind der Meinung, dass diese Konzentration der Macht in den Händen der Zentralgewalt für die groß angelegte Korruption und das nun sichtbar werdende Missmanagement der Ressourcen verantwortlich ist. Infolgedessen gibt es Rufe nach einer weiteren Abgabe von Macht an die Gliedstaaten der Föderation.

Die Aufteilung der Einnahmen der Föderation ist zu einem Streitpunkt geworden. Vor Kurzem musste die Zentralregierung vom Obersten Gericht eine Auslegung der Verfassung zu der Frage anfordern, in welchem Umfang die "Küstenstaaten" – die Bundesstaaten, die am Golf von Guinea liegen – im Rahmen des Abführungsprinzips von den vor der Küste des Landes lagernden Ölvorkommen profitieren können. Die Spannungen, die der Kampf um die Kontrolle der Ölreserven hervorgerufen hat, und das fehlende Verständnis der flexiblen Mechanismen zur Aufteilung der nationalen Ressourcen zwischen der Zentralregierung und den anderen Regierungsebenen verschlimmerten das Problem noch.

Darüber hinaus hat die Verzerrung bestehender föderaler Prinzipen durch die Kommandostruktur des Militärs und die Notwendigkeit, die Justiz vor politischer Einflussnahme zu schützen, zur allmählichen Entwicklung eines zentralisierten einheitlichen Rechtswesens in einem föderalen Staat geführt. Obwohl es eine Antithese zum Föderalismus bildet, wird dieses Arrangement weitgehend für das Allheilmittel gehalten, das die Justiz vor dem finanziellen Druck und dem durchdringenden Einfluss schützt, der andernfalls von den Regierungen der Bundesstaaten auf sie ausgeübt würde.

Es ist zudem angemessen zu betonen, dass die Nigerianer die Vorschriften der Verfassung bezüglich der "indigenen Rechte" zum Schaden der Rechtsfähigkeit missbraucht haben. Das Wort "indigene" ist eine nigerianische Schöpfung und wird verwendet, um die ursprünglich an einem Ort ansässigen Menschen von den erst vor kurzem zugezogenen Bürgern zu unterscheiden. Der negative Effekt der willkürlichen Politik, die "indigenen" Bewohner und nicht die "Siedler" zu fördern, hat sich nachteilig auf die Bemühungen ausgewirkt, ein starkes und vereintes Land zu schaffen.

Nigerias Demokratie ist noch immer schwach und wird in hohem Maße von Krisen geschüttelt. Diese sind weitgehend dem ungenügenden Einsatz der verschiedenen konsensbildenden und konfliktlösenden Mechanismen der Verfassung zuzuschreiben. Es gibt jedoch Grund zur Hoffnung, denn trotz des Fehlens eines frei ausgehandelten föderalen Systems haben die verschiedenen und verschiedenartigen ethnischen Gruppen Nigerias unter sich traditionell harmonisierende Tendenzen gezeigt. Selbst die gegenwärtigen politischen Streitigkeiten drehen sich weitgehend um die

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Aufteilung der nationalen Ressourcen und benutzen ethnische und religiöse Probleme lediglich als Vorwand.

In Nigeria besteht dringender Bedarf an guter Regierungsarbeit und verantwortungsbewusster Führung. Mehrere aufeinander folgende Berichte des Human Development Index der Vereinten Nationen haben das Land insbesondere im Hinblick auf die Beseitigung der Armut und der Verbesserung des Lebensstandards sehr schlecht bewertet. Das wichtigste Ziel der Regierung sollte die Entwicklung von politischen Maßnahmen und Strategien sein, um diesem besorgniserregenden Trend entgegenzuarbeiten, da andernfalls, auch bei einem noch so raffinierten föderalen Modell, eine verfassungsmäßige Staatsführung gefährdet sein könnte.