USA: Dauerhafte Verfassung, neue Herausforderungen

G. ALAN TARR

In ihrer erfolgreichen Geschichte hat die amerikanische Verfassung in der ganzen Welt als Inspiration und als Modell für neu entstehende föderale Demokratien gedient. Sie hat sich als fähig erwiesen, auf Herausforderungen wie die eines Uneinigkeit stiftenden Bürgerkriegs zu reagieren. Nach mehr als zweihundert Jahren sieht sie sich nun einer neuen Runde von Herausforderungen gegenüber.

Eine der bedeutendsten Fragen besteht darin, wie das verfassungsrechtliche System die Globalisierung, wie sie durch den Abschluss des Nordamerikanischen Freihandelabkommen (Nafta) und die aggressiven staatlichen Eingriffe in die Handelspolitik zum Ausdruck kommt, angemessen berücksichtigen kann. Eine Quelle kontinuierlichen Streits ist, wie das Verfassungssystem mit den in den einzelnen Bundesstaaten unterschiedlichen Ansichten in Bezug auf wichtige moralische Fragen wie gleichgeschlechtliche Ehe, Todesstrafe und Abtreibung umgehen soll. Geht es bei diesen Fragen um fundamentale Rechte, so dass ein einheitlicher nationaler Standard benötigt wird, oder handelt es sich um Angelegenheiten, bei denen Verschiedenheit unter den Staaten verfassungsrechtlich garantiert ist? Eine andere Sorge besteht darin, wie in der

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Verfassung eine angemessene Rolle der Bundesstaaten garantiert werden kann. Gezeigt hat sich dies auch in den Debatten über die jüngsten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zur Immunität des Souveräns und zum "Commerce Power", mit denen die "Würde der Bundesstaaten" gewährleistet werden sollte.

Auch wenn die Fähigkeit der amerikanischen Verfassung, sich Änderungen anzupassen, durch diese aktuellen Herausforderungen immer wieder getestet wird, hat die Geschichte gezeigt, dass sie ein bemerkenswert ausdauerndes Dokument ist.

Sie wurde 1787, nach dem Scheitern der "Articles of Confederation", der ersten Verfassung des Landes, geschrieben und ist seit nunmehr über 200 Jahren in Kraft. In diesem Zeitraum haben sich die Vereinigten Staaten grundlegend gewandelt: von dreizehn Staaten entlang der Atlantikküste zu fünfzig Staaten, die sich über den ganzen Kontinent erstrecken (und im Fall Hawaiis sogar darüber hinaus); von einem relativ homogenen Land mit einigen Millionen Einwohnern zu einem facettenreichen Land mit über 270 Millionen Einwohnern; und von einem wirtschaftlich schwachen Land zu einer Supermacht. Dennoch haben diese Veränderungen weitgehend in den Grenzen der Verfassung stattgefunden: In über 200 Jahren ist die Verfassung nur 27 Mal verändert

worden. Wie kann diese außerordentliche

Dauerhaftigkeit erklärt werden?

Die Antwort auf diese Frage liegt zum Teil in den Ursprüngen der Verfassung begründet. Der Ruf nach einer neuen Verfassung erhob sich weniger als ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit von Großbritannien als Reaktion auf Unzulänglichkeiten der Articles of Confede"

ration", denn sie waren weder in der Lage, für wirtschaftliche Prosperität zu sorgen, da das Land unter innernationalen Handelsschranken litt, noch konnten sie die Rechte in und außerhalb der staatlichen Gesetzgebung vor der Herrschaft der Straße beschützen. Und sie ließen auch keine starke Regierung zu, die notwendig gewesen wäre, damit die Vereinigten Staaten auf der Weltbühne eine wichtige Rolle hätten spielen

können. Die Gründer lösten dieses Problem dadurch, dass sie die Befugnisse der Bundesregierung erweiterten und ihr die Möglichkeit gaben, direkt auf die Bürger einzuwirken. Diese Entwicklung von einer Konföderationsregierung, die auf die Teileinheiten einwirkte, hin zu einer Föderationsregierung, die auf den einzelnen Bürger einwirkt, war eine große Innovation in der föderalen Theorie, die spätere föderale System beeinflusste.

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Die Verfassung löste viele Probleme, versagte aber darin, den Streit um die Sklaverei zu schlichten, der den Norden und den Süden spaltete. Einige der Gründer erwarteten – oder hofften –, die Sklaverei würde nach und nach verschwinden, da sie unwirtschaftlich sei. Andere befürchteten, dass eine diesbezügliche Konfrontation die Union spalten würde, was beinahe auch geschah.

Der Bürgerkrieg war zum Teil ein Verfassungskonflikt. Der Süden bestand darauf, dass die Bundesstaaten das Recht haben sollten, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln (einschließlich der Frage, ob die Sklaverei abgeschafft wird oder nicht). Der Norden dagegen bestand darauf, dass die Kompromisse der Verfassung hinsichtlich der Sklaverei temporärer Natur waren und dass das Dokument im Lichte der Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung gelesen werden sollte. Er nahm dabei auf das viel gepriesene Zitat Bezug: "Wir halten die nachfolgenden Wahrheiten für klar an sich und keines Beweises bedürfend, nämlich: dass alle Menschen gleich geboren; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind; dass zu diesem Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehöre." Der Süden betrachtete die Union als einen Pakt zwischen Staaten, den aufzukündigen jeder Staat das Recht hat, wann immer er dies wünscht. Für den Norden hingegen war es eine unauflösbare Union der Menschen, auch wenn diese in Staaten organisiert waren. Obwohl die Union hielt und die Einheit des Landes nach dem Bürgerkrieg nie mehr ernsthaft gefährdet war, wurde die Verfassung in der Folge erheblichen Umgestaltungen unterworfen. Die nach dem Bürgerkrieg eingefügten Verfassungszusätze hatten einen "nationalisierenden" Effekt, wenngleich keinen, der die föderale Vielfalt unmöglich gemacht hätte.

Zum Teil verdankt die amerikanische Verfassung ihren Erfolg der Tatsache, dass sie einerseits die Voraussetzungen für gemeinsame Werte schuf und andererseits Flexibilität bei der Interpretation und den Einfluss der Bundesstaaten zuließ. Ein herausragender Aspekt der amerikanischen Bundesverfassung ist das Fehlen von Details bei vielen (wenngleich nicht allen) Bestimmungen. Diese Allgemeingültigkeit ermöglicht eine gewisse "Beweglichkeit in den Gelenken" und weist damit zukünftigen Generationen eine Rolle bei der Ausgestaltung der Verfassung zu. Wenn man die amerikanische Bundesverfassung mit ihren Gegenstücken in anderen föderalen Demokratien vergleicht, sticht einem ins Auge, dass die amerikanische Verfassung den Bundesstaaten viele Möglichkeiten hinsichtlich der Wahl der Regierungsform lässt. Jede Regierungsebene ist für die Gestaltung ihrer Institutionen wie auch für die Erzielung ihrer Einkünfte in erster Linie selbst verantwortlich. Auch sieht die Verfassung kein System von Transferzahlungen vor. Lokale Regierungsformen, das Bildungs- und Gesundheitswesen und die Wohnungspolitik – alles Themen, die in den Bundesverfassungen der meisten Länder behandelt

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werden – finden in der amerikanischen Verfassung keine gesonderte Erwähnung, während sich die Verfassungen der einzelnen Bundesstaaten mit ihnen in beachtlichem Detail beschäftigen. Dieses Fehlen von Details schränkt die amerikanische Bundesregierung jedoch in ihrer Wirksamkeit nicht ein.

Die Verfassung überträgt der Bundesregierung nur begrenzte Befugnisse. Diese wenigen Befugnisse versetzen sie dennoch in die Lage, die ihr verfassungsmäßig übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Sie hat alle "notwendigen und angemessenen" Befugnisse, die ihr übertragene Macht wirksam auszuüben. Des Weiteren ist die Bundesregierung ermächtigt, Gesetze für Individuen zu verabschieden, und ist so bei der Umsetzung ihrer politischen Maßnahmen nicht auf die Bundesstaaten angewiesen. Die Bundesregierung hat ihre Macht zudem erheblich ausgeweitet. Großzügige Interpretationen der Befugnisse der föderalen Ebene – beispielsweise das Recht, die Wirtschaft und den Handel zu regulieren, und die Inanspruchnahme des Rechts Ausgaben zu tätigen, um Ziele zu erreichen, die andernfalls mit den der Bundesregierung übertragenen Befugnissen nicht direkt erreicht werden könnten – haben zu dieser Erweiterung beigetragen. Die Ausdehnung der föderalen Ebene bedeutet nicht notwendigerweise eine Verringerung der Verantwortung der Bundesstaaten, sondern sie ist vielmehr eine Widerspiegelung der Tatsache, dass der Umfang der Verantwortlichkeiten auf allen Regierungsebenen zugenommen hat.