Forum book 1 german 6/28/07 2:39 PM

Südafrikas ausgehandelter Kompromiss

NICO STEYTLER

Nach drei Jahrhunderten Kolonial- und Rassenherrschaft führte Südafrika 1996 eine neue Verfassung ein, die eine nicht-rassistische Demokratie etablierte. Der Übergang von einer Minderheits- zu einer Mehrheitsherrschaft war eine "ausgehandelte Revolution". Die daraus hervorgegangene Verfassung weist einige föderale Merkmale auf, stellt aber dennoch die Dominanz der Zentralgewalt sicher. Obwohl neun Provinzen geschaffen wurden, wurde weder in der Verfassung noch in den politischen Diskussionen und Debatten vor und nach der Einführung der Verfassung das Wort "Föderalismus" für das föderale System Südafrikas verwendet. Da sich das Land nirgendwo selbst schriftlich als föderal bezeichnet, hält die Debatte über die Natur des neuen südafrikanischen Staates an.

Ziel der Verfassung war es, die unterdrückte Mehrheit zu befreien und mit Macht auszustatten, um das Unrecht der Vergangenheit zu berichtigen. Verbunden mit diesem Ziel war der Wunsch, ein historisch nach Rassen und nach ethnischer Herkunft geteiltes Land zu einigen. Das Vorhaben der Nationenbildung basierte auf dem individualistischen Vorstoß der Menschenrechte, der die alten Rassenunterteilungen durchtrennen und eine neue Republik begründen sollte, die gemäß der Präambel der Verfassung von 1996 "all denen gehört, die vereint in ihren Unterschieden darin leben".

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Das jetzige dezentrale System war das Ergebnis von Verhandlungen – eines Tauziehens zwischen den zwei gegensätzlichen Ausgangspunkten Zentralismus und Föderalismus. In Anbetracht der vor 1993 gültigen, stark zentralistischen Verfassung argumentierten die Befürworter des Föderalismus, dass die neue Verfassung garantieren sollte, dass keine Zentralregierung dem ganzen Land ihr Diktat aufzwingen könne. Sie argumentierten, dass eine breitere Aufteilung der Macht eine bessere Garantie für die Demokratie wäre. Die Befürworter des Zentralismus – weitgehend durch die Befreiungsbewegung repräsentiert – argumentierten, dass eine starke Zentralregierung notwendig sei, um den für das Land wichtigen Transformationsprozess voranzubringen. Sie argumentierten, dass eine starke Zentralregierung das einzige Mittel sei, die Bedingungen für diejenigen

zu verändern, die früher ausgeschlossen waren.

Südafrika gab sich in den 90er Jahren zwei Verfassungen: eine Übergangsverfassung, die das Ergebnis der Verhandlungen im Jahr 1993 war, und eine endgültige Verfassung, die 1996, zwei Jahre nach den 1994 abgehaltenen ersten Wahlen ohne Rassentrennung, verabschiedet wurde. Die föderalen Elemente, die schließlich in die Verfassungen von 1993 und 1996 integriert wurden, waren das Ergebnis des Gebens und Nehmens während des Verhandlungsprozesses. Der Staat sollte als ein ausgehandelter Kompromiss verstanden werden, nicht als das Produkt einer einzigen klaren Vision. Sowohl die Übergangsverfassung als auch die Verfassung von 1996 wichen in zwei wichtigen Punkten von der früheren Rassentrennungs-Demokratie ab. Erstens gründete sich die Verfassung auf die klassische liberale Philosophie des Individualismus und nicht auf den Schutz und die verfassungsmäßige Verankerung einzelner Gruppen, seien sie ethnischer, rassischer oder sprachlicher Natur. Zweitens vermied die Verfassung eine wettbe-werbliche Beziehung zwischen den Einheiten der unteren Ebene und der Zentralgewalt, obwohl Einheiten auf regionaler bzw. lokaler Ebene geschaffen wurden. Die Schaffung einer Nation war das alles überragende Ziel.

Südafrikas Verfassung ist für andere Föderationen wegen der Art und Weise, wie die Macht auf die drei Regierungsebenen (Nation, Provinzen, lokale Ebene) aufgeteilt wird und wegen der expliziten Darstellung bestimmter Prinzipen einer kooperativen Regierungsform von Interesse.

Südafrika hat gegenwärtig eine starke nationale Regierung und versucht zudem, starke lokale Regierungen zu schaffen. Obwohl die Verfassung einen Rahmen vorgibt, in dem die Provinzen eine signifikante Rolle bei der

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Regierungsausübung spielen, haben sie nur begrenzte Steuerbefugnisse und hängen auf der Einnahmenseite zu 96 Prozent von Transfers der Zentralregierung ab. Anhaltende öffentliche Debatten werden darüber geführt, ob die Struktur der Provinzen gestärkt werden soll, damit diese eine bedeutendere Rolle spielen, oder ob sie weiter abgeschwächt werden soll.

Vor den demokratischen Wahlen des Jahres 1994 wurde in Südafrika eine Gemeindeebene geschaffen und auf der Basis der Rassenzugehörigkeit organisiert. Obwohl die Übergangsverfassung einen Abschnitt über die lokalen Regierungen enthielt, wurden die Gemeinden unter die direkte Kontrolle der Provinzen gestellt. Die Verfassung von 1996 änderte das Konzept der lokalen Regierungen als unterste Regierungsebene grundlegend und erhob sie stattdessen in einen der nationalen Regierung und den Regierungen der Provinzen vergleichbaren Stand. Darüber hinaus verpflichtete die Verfassung von 1996 das ganze Land auf demokratische lokale Regierungen.

Eine ganze Reihe von Faktoren hat zu dieser Veränderung im Status beigetragen. Die lokalen Gemeinschaften spielten für die Befreiungsbewegung eine wichtige politische Rolle in ihrem langwierigen Kampf gegen die Apartheid, was zu einer starken Bürgerbewegung führte. Die Autoren der Verfassung versuchten, aus dieser sozialen Bewegung ein Entwicklungsprojekt zu machen, in dem der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht. Die Vorstellung von lokalen Regierungen als Antreiber von Entwicklungsprozessen entsprach auch modernen Entwicklungstheorien, wonach lokale Beteiligung und Initiative für soziale und wirtschaftliche Entwicklung unverzichtbar sind. Da die Schaffung der Provinzen ein ungeliebter Kompromiss war, erfolgte die Stärkung der Lokalregierungen auf Kosten der Provinzen.

Obwohl den Lokalregierungen ein gewisses Maß an Autonomie garantiert wird, werden sie in erheblichem Umfang durch die nationale Regierung und die Regierungen der Provinzen beaufsichtigt. Finanziell genießen die Lokalregierungen ein hohes Maß an Autonomie. Sie haben die Steuerhoheit im Bereich der Grundsteuer und der Benutzergebühren und erwirtschaften gegenwärtig 83 Prozent ihrer Einnahmen selbst.

Die Verfassung von 1996 machte die kooperative Regierungsform zur Grundlage der Dezentralisierung und formulierte in groben Zügen deren Leitprinzipien. Laut dem Verfassungsgerichts enthält die Verfassung keinen "Wettbewerbsföderalismus", sondern im Gegenteil "kooperative Regierung". Ein wichtiges Prinzip der kooperativen Regierungsform ist die Vermeidung von Gerichtsverfahren zur Entscheidung zwischenstaatlicher Streitigkeiten. Der Grund dafür besteht darin, dass Streitigkeiten, wann immer dies möglich ist, "auf einer politischen Ebene und nicht durch schädliche Gerichtsverfahren beigelegt werden sollten". Bis heute sind die Beziehungen zwischen der Zentralgewalt und den Provinzen kooperativ und nicht auf Konflikt ausgerichtet, was auch durch die Dominanz einer einzigen Partei in den Regierungen der Provinzen und der lokalen Ebene beeinflusst wird.