Australien: Eine leise Revolution im Gleichgewicht der Kräfte

CLEMENT MACINTYRE / JOHN WILLIAMS

In der australischen Föderation sind im letzten Jahrhundert trotz weniger formaler Verfassungsänderungen signifikante Korrekturen bei der Verteilung der Befugnisse und Zuständigkeiten vorgenommen worden. Um den neuen Verantwortlichkeiten und ihrer sich ändernden Rolle gerecht zu werden, hat die nationale Regierungsebene, das Commonwealth, auf Kosten der einzelnen Bundesstaaten allmählich mehr Befugnisse an sich gezogen. Australiens föderales System hat sich weniger durch wohl überlegte Verfassungsänderungen weiterentwickelt, als vielmehr durch gerichtliche Auslegungen der Verfassung und durch geschicktes politisches Taktieren.

Australien ist eine der jüngsten Demokratien und zugleich eine der ältesten Föderationen. 1901 vereinigten sich die sechs australischen Kolonien zu "einem unauflösbaren föderalen Bund unter der Krone des Vereinigten Königreichs". Diesem Akt gingen eine Reihe von Verhandlungen, Verständigungen und Debatten über die Bedürfnisse und Ziele der Gemeinschaft voraus. Beachtung verdient die Tatsache, dass

Clement Macintyre / John Williams

keine Beratungen mit den Ureinwohnern stattfanden. Über die letzten hundert Jahre hat jedoch eine leise Revolution im Kräfteverhältnis und bei den Aufgaben der Zentralregierung und der Staaten stattgefunden, mit dem Ergebnis, dass Australien nun weltweit zu den stärker zentralisierten föderalen Systemen zählt.

Die Ausarbeitung der australischen Verfassung war zugleich auch eine Studie in vergleichendem Verfassungsrecht und Staatskunst. Die Autoren, die mit einer "verantwortlichen Regierung" (responsible government) nach dem Vorbild des Westminster-Systems aufgewachsen waren, mussten Mittel und Wege finden, die Vorteile einer Union und den Wunsch der Kolonien nach Autonomie in Einklang zu bringen. So stülpten sie dem System der "verantwortlichen Regierung" eine föderale Struktur über. Ganz offensichtlich haben sie sich dabei vom föderalistischen System der Vereinigten Staaten inspirieren lassen. Viele der Verfasser kannten die USA aus erster Hand und hatten das amerikanische Verfassungsrecht studiert. Ironischerweise zogen die Verfasser das amerikanische Modell dem kanadischen System vor, da sie in letzterem einen zentralisierenden Föderalismus zu sehen glaubten. Die Geschichte sollte zeigen, dass sie sich geirrt hatten.

Die Autoren der Verfassung entschieden sich für ein konkurrierendes System der Befugnisse und Zuständigkeiten und folgten damit dem Beispiel der amerikanischen Verfassung. Sie versahen ihre Verfassung mit einer Liste von Bereichen (wie beispielsweise dem Steuerwesen, der Regulierung bestimmter Unternehmensformen, der Einwanderung, Heirat und Scheidung), in denen das Commonwealth mit den Bundesstaaten konkurrierende Gesetze erlassen konnte. Indem die Autoren der Verfassung dem Parlament des Commonwealth in einer Liste klar definierte Befugnisse übertrugen, überließen sie die übrigen Gesetzgebungsbefugnisse den Bundesstaaten. Damit verbleiben Aufgaben wie das Strafrecht, die Kontrolle des Landesrechts und das Gesundheitswesen bei den Bundesstaaten und sichern diesen eine kontinuierliche und signifikante Rolle. Dem Commonwealth wurden explizit nur jene Befugnisse übertragen, die 1901 in Australien für die Gründung einer Nation als notwendig erachtet wurden.

Gemäß der Verfassung unterliegen die Landesverteidigung, das Zollwesen, die Verbrauchssteuer, die Währung und alle Einrichtungen des Commonwealth, wie beispielsweise der Regierungssitz in Canberra, der ausschließlichen Kompetenz des Commonwealth. Im Fall von Widersprüchen bei Angelegenheiten, die von den Gesetzen des Commonwealth und der Bundesstaaten gleichermaßen behandelt werden, etwa der Regulierung von Kapitalgesellschaften, genießt das Gesetz des Commonwealth den Vorrang.

Dieses 1901 eingeführte Modell hat sich allem formalen Wandel widersetzt. Verfassungsänderungen bedürfen der Zustimmung der Bevölkerung

Australien

im Rahmen eines Referendums. In den letzten 100 Jahren waren von 44 Referenden nur 8 erfolgreich, namentlich die Ausdehnung der Gesetzgebungshoheit des Commonwealth auf die Aborigines im Jahr 1967. Erst kürzlich lehnten es die Australier ab, die Verbindungen mit der britischen Monarchie aufzulösen und eine Republik zu begründen. Die mögliche Ursache für diesen Widerstand hat die Wissenschaftler und die verhinderten Reformer intensiv beschäftigt. Letztendlich scheint eine Verfassungsreform von zwei Faktoren abzuhängen: Sie muss parteiübergreifend politische Unterstützung finden und darf nicht den Eindruck erwecken, dem Commonwealth mehr Macht zu verleihen. Aber auch unter diesen Bedingungen war ein Erfolg nicht immer gewiss.

Trotz der wenigen formalen Änderungen ist das föderale System Australiens umfassend umgestaltet worden und zwar vor allem durch Verfassungsinterpretationen des High Court. Dieses 1903 etablierte Gericht fungiert als Berufungsgericht für die Obersten Gerichte der Bundesstaaten und andere Bundesgerichte und ist für die Interpretation der Verfassung zuständig. Seine Rolle als letzte Instanz des australischen Rechtswesens wurde anfänglich durch die Möglichkeit einer Berufung vor dem britischen Kronrat überschattet. Mehrere gesetzgeberische Maßnahmen, die in den sechziger Jahren begannen und bis 1986 dauerten, führten jedoch schließlich zur Abschaffung dieser Möglichkeit.

Der High Court war eine der treibenden Kräfte hinter den Erneuerungen des australischen Föderalismus. Die ersten Jahrzehnte des australischen Föderalismus sahen den Versuch des Gerichtes, das föderale Gleichgewicht, das beim Zusammenschluss der Kolonien bestanden hatte, aufrechtzuerhalten. Schon bald jedoch änderte das Gericht den Kurs grundlegend. 1920 gestattete es dem Common

wealth, seine Gesetzgebungshoheit ohne die Restriktionen der früheren Jahrzehnte auszuüben. Nebst den Veränderungen der politischen Landschaft nach dem 2. Weltkrieg war dies einer der Gründe, die es dem Commonwealth ermöglichte, sich zum wesentlichen Akteur im australischen Föderalismus zu entwickeln.

Aufgrund von Verfassungsauslegungen und geschicktem politischen Taktieren ist das Commonwealth zur dominierenden Kraft in der australischen Föderation geworden. Die Kontrolle über die direkte und indirekte Besteuerung hat ihm ermöglicht, seine finanzielle Stärke dazu zu nutzen, die Bundesstaaten selbst da zur Gefolgschaft zu zwingen, wo ihm Gesetzgebungskompetenzen fehlen. Heute werden die Bereiche Bildung, Gesundheit und innere Sicherheit in unterschiedlichem Maße von der Agenda des Commonwealth beherrscht. Darüber hinaus hat das Recht des Commonwealth, interna

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tionale Verträge auszuhandeln und umzusetzen, seine Macht weiter ausgedehnt, da die Zahl und die Reichweite solcher Verträge zugenommen hat. Dies hat beispielsweise im Bereich des Umweltschutzes, der Menschenrechte und bei den Beziehungen zur Industrie zu Kontroversen geführt.

Seit seiner Einführung hat der australische Föderalismus beständig versucht, zwischen dem Commonwealth und den einzelnen Bundesstaaten eine klare Linie hinsichtlich ihrer Befugnisse und Zuständigkeiten zu ziehen. Selbst wenn sich diese Linien über die Zeit infolge des Zusammenspiels kooperativer, gerichtlicher und geschichtlicher Faktoren verschoben haben, hat sich die australische Föderation als ein ziemlich erfolgreiches föderales Regierungssystem erwiesen.