Belgien: Anhaltende Änderungen in einer neuen föderalen Struktur

HUGUES DUMONT/ SÉBASTIEN V AN DROOGHENBROECK/ NICOLAS LAGASSE / MARC V AN DER HULST

Von einem rechtlichen Standpunkt aus betrachtet ist die Umwandlung Belgiens von einem Einheitsstaat zu einem föderalen Staat ein relativ neues Phänomen. Sie begann 1970 und hat sich in aufeinander folgenden Wellen 1980, 1988-89, 1993 und 2001 fortgesetzt. Trotz der kürzlich vorgenommenen Änderungen wird weiterhin politischer Druck ausgeübt mit dem Ziel, der nationalen Regierung weitere Befugnisse zu entziehen. Gegenwärtig wagt niemand eine Prognose, wo diese Entwicklung enden und wie das Ergebnis aussehen wird.

Die in Belgien seit den 70er Jahren vorgenommenen Veränderungen haben bestimmte Ähnlichkeiten mit der Entwicklung der Europäischen Union, jedoch in umgekehrter Richtung. Bei beiden handelt es sich um pragmatische Entwicklungen, die in kleinen Schritten und anfänglich ohne klar definiertes Ziel erfolgten, mit dem großen Unterschied, dass die EU zentralistischer, Belgien dagegen weniger zentralistisch wurde.

H. Dumont / S. van Drooghenbroeck / N. Lagasse / M. van der Hulst

Der belgische Föderalismus kann durch vier wesentliche Eigenschaften charakterisiert werden, die seit 1970 nicht an Bedeutung verloren haben: Dissoziation, Überlagerung, Asymmetrie und eine duale Natur.

  1. Dissoziation. Im Unterschied zu den meisten anderen Bundesstaaten entstand der belgische Föderalismus nicht durch die Vereinigung vorher souveräner politischer Einheiten, sondern durch die Dezentralisierung eines ehemaligen Einheitsstaates. Der zentrifugale Charakter dieser Entwicklung erklärt bestimmte Aspekte der Gewaltenteilung zwischen dem Bundesstaat und den verschiedenen "föderierten Einheiten". Den föderierten Einheiten stehen nur jene Befugnisse zu, die ihnen explizit übertragen wurden; die restlichen Befugnisse verbleiben bei der Bundesebene. Ursprünglich war vorgesehen, diese Verteilung der Befugnisse umzukehren. Dann müssten die Befugnisse, die auf der Bundesebene verbleiben, jedoch formal bestimmt werden, was die Fähigkeit der belgischen Regierung einschränken würde, in neuen Rechtsbereichen in Aktion zu treten. Die Umkehr der Restbefugnisse wurde für die aktuelle politische Agenda als zu riskant eingeschätzt. Die Gewaltenteilung beruht auf einer Exklusivität der Zuständigkeit – das bedeutet, dass für jede Frage nur eine einzige Ebene befugt ist, "Gesetze zu erlassen, auszuführen und zu finanzieren" – und Befugnisse, die sich überschneiden, im Allgemeinen ausgeschlossen sind. Bezüglich dieser Regel bestehen jedoch Ausnahmen und Kompromisslösungen.
  2. Überlagerung. Belgien unterscheidet sich vom klassischen föderalen Modell dadurch, dass es zwei unterschiedliche Arten föderaler politischer Einheiten hat: die Sprachgemeinschaften und die Regionen. Es können drei Sprachgemeinschaften unterschieden werden: die flämischsprachige, die französischsprachige und die deutschsprachige. Das Gemeinschafts

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phänomen" war das Ergebnis flämischer Forderungen und hat seine Wurzeln in dem Minderheitenstatus, den die flämische Sprache und Kultur im 19. und im frühen 20. Jahrhundert genoss. Der Verantwortungsbereich der Gemeinschaften umfasst die kulturellen Angelegenheiten, die "persönlichen" Angelegenheiten – also Angelegenheiten wie beispielsweise der Jugendschutz, die die Beziehungen zwischen den Menschen zum Gegenstand haben – und mit einigen Ausnahmen das Bildungswesen und die Sprachverwendung.

Bei den drei Regionen handelt es sich um Flandern, Wallonien und die Hauptstadtregion Brüssel. Das "Regionenphänomen" wurde auf Druck der im Süden lebenden Wallonen eingeführt. Die Politiker aus dem Süden reagierten auf die Alterung und den Niedergang der wallonischen Wirtschaft in den 60er Jahren, indem sie nach zusätzlicher wirtschaftlicher Kontrolle und mehr Autonomie strebten. Durch mehrere aufeinander folgende Reformen wurden den Regionen unter anderem Befugnisse zur Raumnutzung in einem weiten Sinn (z. B. Umwelt, Bodennutzung), zur Wirtschaftspolitik (z. B. Beschäftigung, Außenhandel und Landwirtschaft)

Belgien

und zur Organisation und Kontrolle dezentralisierter politischer Einheiten (z. B. Provinzen und Gemeinden) übertragen.

Jede Gemeinschaft und jede Region hat ihre eigene Legislative, den Rat, und eine Exekutive, die Regierung. Infolgedessen hat sich nicht nur die Zahl der Gesetzgeber im belgischen Föderalismus drastisch erhöht, sondern auch die Konfliktmöglichkeiten zwischen deren Befugnissen. Zur Lösung solcher Konflikte wurde 1990 ein Verfassungsgericht (Cour d'arbitrage/Arbitragehof) geschaffen. Die föderierten Einheiten und der Bundesstaat können zur Schlichtung von Streitigkeiten zudem auch Kooperationsabkommen abschließen. Besondere Reformgesetze können das Ausarbeiten solcher Kooperationsabkommen sogar bedingen.

    1. Asymmetrie. Der belgische Föderalismus wird auch durch eine Asymmetrie charakterisiert, die Unterschiede in der Organisation und den Befugnissen der föderierten politischen Einheiten hervorruft und zulässt. So genießt die Hauptstadtregion Brüssel zum Beispiel einen anderen Status als die beiden anderen Regionen, weil sie in bestimmten Angelegenheiten der Föderation untersteht. Und die Räte der französischsprachigen und der flämischsprachigen Gemeinschaften können gemäß Artikel 137 der Verfassung Befugnisse von den Regionen Wallonien und Flandern übernehmen. Solch eine "Fusion" ist in Flandern, nicht aber im Süden erfolgt.
    2. Die Verfassung erlaubt es der französischsprachigen Gemeinschaft in den rein französischsprachigen Gebieten, die Ausübung einiger ihrer Befugnisse der Region Wallonien und der "Kommission der französischsprachigen Gemeinschaft" in Brüssel zu übertragen. Eine solche Übertragung von Befugnissen ist zum Teil schon erfolgt, was bedeutet dass die Befugnisse der Gemeinschaften im Norden und Süden des Landes nicht mehr identisch sind.
  1. Duale Natur. Schließlich ist der belgische Föderalismus dualer Natur (la bipolarité). Die rechtliche Entwicklung eines Bundesstaates wird durch die im Land bestehenden sozialen Kräfte bestimmt.

Im Unterschied zu anderen Bundesstaaten haben diese Kräfte in Belgien eine erkennbar duale Natur, mit der flämischsprachigen und der französischsprachigen Gemeinschaft als den beiden Partnern.

Diese Kräfte und die Spannungen, die sie auslösen, sind der wahre Antrieb der institutionellen Evolution in Belgien. Die aufeinander folgenden

institutionellen Reformen haben sich als pragmatische Konsenslösungen in Krisenzeiten entwickelt und nicht als eine Folge von Schritten auf ein klares und vorab beschlossenes Ziel hin. Die Komplexität der belgischen Institutionen ist die Folge dieses Pragmatismus. Aber sie ist auch der Preis, der zu zahlen war, um schärfere Konflikte zwischen den Gemeinschaften zu vermeiden.