Brasilien: Aufbau der Föderation und Gemeinwohl

MARCELO PIANCASTELLI DE SIQUEIRA

Brasilien bedeckt ein gewaltiges Territorium und besitzt ein komplexes und finanziell asymmetrisches föderales System. Das Land bemüht sich um wirtschaftliche Stabilität und kämpft gleichzeitig gegen tief verwurzelte soziale Ungleichheiten und regionale Unterschiede. Die Ziele der gegenwärtigen Verfassung bestehen in der Konsolidierung der Demokratie, der Dezentralisierung der Regierung und der Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung. Die Regeln der Verfassung haben sich im Laufe der Zeit verändert, weitgehend um sich dem geänderten wirtschaftlichen Kontext anzupassen. Brasiliens republikanischer Föderalismus hat jedoch als Staatsstruktur bemerkenswerte Stabilität gezeigt.

Versuche, eine föderale Regierungsform einzuführen, können bis in das Jahr 1831 zurückverfolgt werden. Erst die verfassungsmäßige Gliederung in Bundesstaaten im Jahr 1891 führte jedoch zur ersten republikanischen Bundesverfassung. Die gegenwärtige Verfassung trat 1988 in Kraft. Sie zeugt von einem klaren Willen zur Dezentralisation, die dazu dienen soll, die Macht näher an die Menschen zu rücken. Eine intrakonstitutionelle Gesetzgebung – die so genannten "Ergänzungsgesetze" – trägt zudem zu ihrer ständigen Entwicklung bei.

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Um den demokratischen Prozess im Land zu stärken, hatten die Verfasser der jetzigen Bundesverfassung eine dezentrale Organisation der Regierung zum Ziel. Artikel 1 der Verfassung benennt als Grundlage des Föderalismus eine dauerhafte Verbindung zwischen der Bundesregierung, den Bundesstaaten und den Gemeinden. Ziel war die Förderung der Souveränität, der Staatszugehörigkeit, der Würde des Menschen, des gesellschaftlichen Wertes der Arbeit, der Mitwirkung der Privat

wirtschaft und der politischen Vielfalt. Artikel 2 stellt fest, dass die grundlegenden Ziele der föderalen Republik darin bestehen, eine freie, gerechte und geeinte Gesellschaft zu schaffen, die Entwicklung der Nation zu gewährleisten, die Armut zu beseitigen sowie soziale und regionale Ungleichheiten abzubauen.

Die historische Entwicklung zeigt jedoch, dass es sich in Brasilien weder um eine dezentralisierende noch um eine zentralisierende Ausformung des Föderalismus handelt. Sie ist immer wieder dem politischen und ökonomischen Kontext der jeweiligen Zeit angepasst worden. Brasiliens verfassungsrechtliche Entwicklung ist seit dem Jahr 1831, also dem ersten Versuch ein föderales System einzuführen, nicht systematisch verlaufen. Gemäß der Verfassung von 1988 kann der brasilianische Föderalismus je nach Zusammenhang wohl am besten als "kooperativ" oder als "kolludierend" beschrieben werden, obgleich die Dezentralisierung in letzter Zeit als dringend notwendig erachtet wird. Die politischen Umstände spielten ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Richtung, die die brasilianische Verfassungsgeschichte einschlug.

Beobachter glauben, dass sich der Föderalismus in Brasilien in die folgenden Richtungen weiterentwickeln muss: Verbesserung der Verwaltung der Ballungsgebiete, Verbesserung der öffentlichen Leistungen (Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung, Gesundheitswesen, Bildungswesen, Sozialfürsorge), Hilfe für Kinder und ältere Menschen, Entwicklung von Organisationen zur Beratung vor Ort und – am wichtigsten – die Haushaltsgesetze müssen verpflichtend werden.

Das Haushaltssystem ist eine der wesentlichen Herausforderungen, denen sich die brasilianische Föderation gegenübersieht. Es existieren gegenwärtig drei separate Haushalte, einer für jede Regierungsebene: Sie sind nicht sonderlich gut koordiniert und setzen nicht die gleichen Prioritäten. Die Dezentralisierung, die mit der Verfassung von 1988 zum Tragen kam, erschwert die Koordination der makroökonomischen Politiken, und es ist heute praktisch unmöglich zu bestimmen, wo öffentliche Gelder ausgegeben wurden. Mit der Ausnahme jener, die der Zweckbindung für öffentliche Ausgaben unterliegen, sind die Haushalte

Marcelo Piancastelli de Siqueira

in Brasilien nicht verpflichtend, sondern lediglich erlaubt. In diesem Sinn sind sie nur Hinweise dafür, welchen Aufgaben die öffentlichen Ausgaben zugewiesen werden sollen.

Es gibt zwei weitere Gründe dafür, warum sich Brasilien in der Zukunft beachtlichen Herausforderungen gegenüber sehen wird. Einer dieser Gründe besteht in der Art und Weise, wie die Verfassung von 1988 entworfen wurde. Sie hatte zum Ziel, neue demokratische Regeln einzuführen und das Problem der sozialen und regionalen Ungleichheiten zu lösen, und drückte eine anhaltende Tendenz hin zu stärkerer Dezentralisierung aus, die dazu führte, dass eine Reihe öffentlicher Leistungen, besonders im Sozialbereich, dezentralisiert wurde. Unglücklicherweise ist diese Dezentralisierung ohne eine angemessene haushälterische Rechenschaftspflicht und ohne eine klare Verteilung der Befugnisse und Zuständigkeiten erfolgt.

Die erhebliche Zunahme von Transfers an die Bundesstaaten hatte eine große Wirkung auf die öffentlichen Finanzen des Landes. Der soziale Charakter dieser Ziele war nie strittig, jedoch die genaue Quelle aus der sie finanziert werden sollten. Fünfzehn Jahre nach dem Inkrafttreten der Verfassung hat sich bei den öffentlichen Finanzen noch kein Gleichgewicht hergestellt. Die Zentralregierung kämpft noch immer darum, ihre Einnahmen zu erhöhen und die öffentlichen Ausgaben neu zu organisieren, um dauerhafte und nachhaltige Wachstumsraten zu erreichen. Die Bundesstaaten und Gemeinden haben für ihren Teil die verfassungsmäßig und gesetzlich abgesicherte Befugnis, Steuern zu erheben. Aber erst Mitte 2000, mit der Verabschiedung eines Haushaltsdisziplingesetzes, haben sie eine disziplinierte Finanzpolitik eingeführt.

Die exzessive Betonung der Dezentralisierung ist somit zu einer Quelle großer Schwierigkeiten geworden. Im gegenwärtigen brasilianischen Kontext kann die Dezentralisierung als ein effektiver Mechanismus für die Bereitstellung hochwertiger öffentlicher Güter und Dienstleistungen sowie als Mittel zur Erlangung größerer Transparenz gesehen werden. Sie kann jedoch auch kostspielig sein. Einige Bundesstaaten sind besser in der Lage, diese Kosten abzufedern, was jene regionalen Unterschiede verschärft, die die Verfassung eigentlich ausgleichen sollte.

Ein stabiles finanzpolitisches Gleichgewicht ist ein anderer wichtiger Punkt für den brasilianischen Bundesstaat, besonders hinsichtlich einer größeren wirtschaftlichen Stabilität und der Verringerung regionaler und sozialer Unterschiede. Die Struktur des brasilianischen Systems der Einnahmenaufteilung ist nicht ausgeglichen. Weil der verfassungsmäßige Transfer von Finanzmitteln asymmetrisch erfolgt und noch nicht klar darauf ausgerichtet ist, sich mit den gesellschaftlichen Prioritäten und der Chancengleichheit zu befassen, scheitert der brasilianische Föderalismus in seinem Versuch, die regionalen und Einkommensunterschiede auszugleichen.