Kanada: Wettbewerb im kooperativen Föderalismus

RICHARD SIMEON

Man erhält nur ein unvollständiges Bild des "Wer tut was", wenn man das kanadische Verfassungsgesetz von 1867 liest. Die Abschnitte 91 und 92 definieren die Verteilung der Befugnisse und Kompetenzen in Kanada, zeigen dabei jedoch nur einen Ausschnitt des wirklichen Kräfteverhältnisses. Die Verteilung der Befugnisse befindet sich in stetigem Wandel. Von einer Vorherrschaft der föderalen Ebene über einen klassischen dualen Föderalismus und eine erneute Festigung des föderalen Einflusses hat sich das Gewicht des Einflusses in der Gegenwart zu zwei mächtigen Regierungsebenen hin verschoben, die viele hoheitliche, bürokratische, finanzielle und politische Hebel betätigen, um die Politik in weiten Bereichen zu gestalten. In dem Maß, in dem neue Politikfelder entstanden sind – wie beispielsweise das Thema Umwelt –, sind auch der Wille und die Mittel, sich damit zu befassen, gewachsen. "Wasserdichte Schotten" sind durch Überschneidungen, gemeinsame Aufgabenbereiche und Verflechtungen ersetzt worden. Zentral für den politischen Entscheidungsprozess in Kanada ist eine komplexe Mischung aus Kooperation und Wettbewerb zwischen den Regierungen.

Richard Simeon

Verfassungsänderungen sind zwar noch immer selten und auch schwierig, aber gerichtliche Entscheidungen, zwischenstaatliche Abkommen und Finanztransfers haben es ermöglicht, die Verfassung an neue Anforderungen anzupassen. Größere Änderungen wurden 1982 vorgenommen: Es wurde eine Grundrechtecharta verabschiedet und das Recht, die Verfassung zu ändern, wurde aus Großbritannien "heimgebracht", so

dass Kanada nicht länger das Parlament des

Vereinigten Königreichs in Westminster um eine offizielle Änderung der Verfassung bitten muss. Zwei spätere Versuche, signifikante Änderungen vorzunehmen, scheiterten jedoch.

Für das sich wandelnde Muster des kanadischen Föderalismus sind viele Faktoren verantwortlich. Ein erster sind die demografischen Veränderungen. Aus dem Kanada des Jahres 1867 mit vier Provinzen und gerade einmal 3,5 Millionen Menschen ist ein Land geworden, das

32 Millionen Einwohner, 10 Provinzen und drei Territorien umfasst und an drei Ozeane grenzt. Früher weitgehend ländlich geprägt, ist Kanada heute eines der Länder mit der stärksten Urbanisierung. Eine Gesellschaft, die sich ursprünglich beinahe ausschließlich aus Menschen französischer und britischer Abstammung zusammensetzte (nebst den größtenteils vertriebenen ursprünglichen Bewohnern des Landes), hat sich in eine der weltweit facettenreichsten und multikulturellsten Gesellschaften verwandelt. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Bedeutung der internationalen Abkommen und des Außenhandels. Kanada wurde wirtschaftlich in den nordamerikanischen Markt integriert. Dies hatte enormen Einfluss auf die politische Agenda und die Erwartungen der Bürger. Weitere Faktoren sind regionale Unterschiede hinsichtlich der Konzepte: Staatsangehörigkeit, Identität und Gesellschaft. Eine grundlegende Teilung erfolgt durch die Sprache. Die hauptsächlich in Quebec lebenden Französisch sprechenden Kanadier und Kanadierinnen haben ein stark entwickeltes nationales Selbstverständnis und eine eigene Einstellung zur Rolle des Staates. Quebec hat sich einem Machtzuwachs der Föderation widersetzt und ist heute ein mächtiger Befürworter von "Asymmetrie". Aber auch andere Provinzen besitzen eine starke Identität, besondere politische Interessen und mächtige Regierungen. Eine einzige landesweite Politik ist häufig weder angebracht noch umsetzbar.

Die Wechselbeziehungen zwischen diesen oft in unterschiedliche Richtungen wirkenden Kräften machen es schwierig, die Verteilung der Befugnisse in einfacher Form zu beschreiben. Ottawa ist weitgehend für die internationalen Angelegenheiten, die Sicherheit, die gesamtwirtschaftliche Politik sowie für Fragen der Immigration und Staatsangehörigkeit zuständig, die Provinzen haben jedoch auch ein Mitspracherecht

Kanada 15

in diesen Bereichen. Letztere sind wiederum weitgehend zuständig für das Bildungs- und das Gesundheitswesen, die Sozialhilfe, die Wirtschaftsentwicklung sowie für die Regulierung der Wirtschaft. Durch Transfers an die Provinzregierungen und ein Ausgleichsprogramm, mit dem sichergestellt werden soll, dass ärmere Provinzen in der Lage sind, ihre Aufgaben ohne eine ungebührlich hohe Besteuerung zu erfüllen, ist Ottawa jedoch auch an diesen Bereichen beteiligt. Die Folge ist ein "kooperativer Föderalismus" mit verschiedenen zwischenstaatlichen Abkommen über wirtschaftliche und soziale Fragen, das Gesundheitswesen und die Umwelt.

Aber wer was tut, kann nie abschließend beantwortet werden, und die Bürger und Bürgerinnen sowie die Behörden sehen sich heute mit einer Reihe wichtiger Fragen konfrontiert.

Die erste ist die Sorge über das fiskalische Ungleichgewicht. Die Provinzen behaupten, dass eine Unausgeglichenheit zwischen ihren Verantwortungsbereichen und den ihnen zur Verfügung stehenden Einnahmen bestehe. Die Zentralregierung weist auf ihren eigenen Finanzbedarf hin und darauf, dass die Provinzen selbst Steuern erheben dürfen.

In einer weiteren Debatte geht es um die "nationalen Standards" versus die Vielfalt der Provinzen. Eine nationale Staatsangehörigkeit beinhaltet, dass für alle Kanadier gemeinsame Normen gelten sollten; Föderalismus jedoch beruht auf politischer Vielfalt. Wie findet man in Bereichen wie dem Gesundheitswesen einen Ausgleich?

Ein relativ neues Thema ist die Beteiligung an der Weltwirtschaft und der Wirtschaft Nordamerikas. Befinden sich die Provinzen und Gemeinden in einer optimalen Lage, auf die globalen Erfordernisse zu reagieren, oder ist eine stärkere föderale Hand notwendig, um sicherzustellen, dass Kanada im Ausland mit einer Stimme spricht?

Die Verfassung überträgt allen Provinzen dieselben Aufgaben, aber würde "Asymmetrie" die Realität des Landes nicht besser widerspiegeln? Im Gesetz und in der Praxis haben sich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Provinzen herausgebildet. Würde eine Zunahme der Asymmetrie die Föderation stärken oder schwächen?

Kanada schlingert zwischen wettbewerblichem und kooperativem Föderalismus hin und her. Einige argumentieren, dass in Anbetracht der bestehenden Aufgabenüberschneidungen für eine effektive Politik eine gemeinsame Entscheidungsfindung erforderlich ist. Andere schlagen vor, dass die Regierungen miteinander in einen Wettbewerb treten sollten, um politische Innovation und Reaktionsbereitschaft sicherzustellen.

In letzter Zeit wurden Kanada und auch andere Länder von externen Ereignissen – Ölpreise, Naturkatastrophen und Gesundheitskrisen, wie der Ausbruch von Sars – erschüttert. Kompetenzkonflikte und zwischenstaatliche Rivalitäten haben effektive politische Reaktionen untergraben. Die Behörden Kanadas müssen lernen, besser auf zukünftige Krisen zu reagieren.

Richard Simeon

Die lokalen Gebietskörperschaften fallen in den Kompetenzbereich der Provinzen und haben keinen eigenen Status in der Verfassung. Dennoch erbringen sie für die Bürger und Bürgerinnen eine breite Palette von Leistungen. Es hat vor kurzem Versuche gegeben, die Autonomie und die finanzielle Basis der Gemeinden zu verbessern und ihnen einen Platz im vielschichtigen kanadischen Regierungs- und Verwaltungssystem zu geben.

Die Ureinwohner Kanadas haben für sich das Recht beansprucht, eine dritte Regierungsebene zu bilden. Ihre Forderungen nach Landrechten und Selbstbestimmung haben starke Unterstützung von den Gerichten erfahren. Um die Bedürfnisse der heute meistens in städtischen Gebieten lebenden Ureinwohner zu befriedigen, ist es für Kanada wichtig, Modelle der Selbstverwaltung zu entwerfen.

Die Verteilung der Befugnisse in Kanada ist bis heute eine unvollendete Aufgabe. Ihre Zukunft wird – wie in der Vergangenheit – durch pragmatische Anpassungen im Rahmen der Verfassung und der vielen oben beschriebenen Faktoren bestimmt. Bei der Bewältigung dieser Probleme können die Kanadier sowohl von den Erfahrungen anderer lernen als auch zu den Erfahrungen anderer beisteuern.