Vergleichende Betrachtungen

RONALD L. W A TTS

Die verfassungsrechtliche Verteilung der legislativen und exekutiven Befugnissen und der Finanzen auf die Bundesbehörden und die Behörden der einzelnen föderalen Einheiten ist ein grundlegendes, in der Tat ein definierendes Gestaltungs- und Funktionselement dieser Bundesstaaten. Obwohl die verfassungsrechtliche Verteilung der Befugnisse, Zuständigkeiten und Finanzen auf die einzelnen Regierungsebenen ein grundlegendes und allen Bundesstaaten gemeinsames Merkmal ist, gibt es zwischen den einzelnen Föderationen enorme Unterschiede hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Form, der Reichweite und des Wirkens der Gewaltenteilung.

Da verschiedene geografische, historische, wirtschaftliche, sicherheitsbezogene, demografische, sprachliche, kulturelle, intellektuelle und internationale Faktoren die Stärke der gemeinsamen Interessen und die Vielfalt der Föderationen beeinflussen, bestehen Unterschiede bei der Verteilung der Macht und dem Grad der Nicht-Zentralisierung.

Zu den formalen Unterschieden bei der verfassungsrechtlichen Verteilung der Befugnisse zählen das Ausmaß, in welchem die ausschließlichen oder konkurrierenden Kompetenzen der Regierungen hervorgehoben werden; die Art der Übertragung der Befugnisse der Bundesstaaten beziehungsweise Provinzen (das heißt entweder mit Hilfe einer besonderen Zuständigkeitsliste oder anhand der allgemeinen Zuordnung von Restbefugnissen); das Ausmaß, in dem die Übertragung exekutiver Aufgaben mit der Gesetzgebungshoheit übereinstimmt; die Symmetrie oder Asymmetrie bei den Befugnissen, die den unterschiedlichen föderalen Einheiten zugeordnet sind; die formale verfassungsrechtliche Anerkennung lokaler Gebietskörperschaften als einer dritten Regierungsebene mit eigenem, garantiertem Selbstbestimmungsrecht; und der Umfang der vorrangigen beziehungsweise Notstandsbefugnisse der Bundesregierung. Hinsichtlich des Umfangs der verfassungsrechtlich gewährten Befugnisse gibt es erhebliche Unterschiede in den relativen Rollen, die die Regierungen in verschiedenen Politikfeldern spielen. Die finanziellen Einrichtungen und der Umfang

Ronald L. Watts

zwischenstaatlicher Finanztransfers unterscheiden sich ebenfalls. Es existieren also erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Grades der Zentralisierung oder der Nicht-Zentralisierung und hinsichtlich der Kooperation oder des Wettbewerbs zwischen den einzelnen Regierungen einer Föderation.

Darüber hinaus gibt es in allen Bundesstaaten beachtliche Unterschiede zwischen der verfassungsrechtlichen Form und der operativen Realität der Gewaltenteilung. In den meisten Fällen haben politische Praxen und Verfahren zu Änderungen bei der Anwendungsweise der Verfassung geführt. Einen Schlüsselfaktor spielen dabei die politischen Parteien und Interessengruppen, die Einfluss auf die politischen Verhandlungen und Kompromisse ausüben.

Zwar wird in allen Föderationen die Verteilung der Befugnisse an die Regierungsebenen verfassungsrechtlich festgelegt, aber Überschneidungen und wechselseitige zwischenstaatliche Abhängigkeiten haben sich als unausweichlich und unvermeidbar erwiesen. Deshalb ist es in der Regel notwendig, eine Reihe von Verfahren und Institutionen zu schaffen, die die zwischenstaatliche Zusammenarbeit fördern. Auch hier gibt es jedoch zwischen den einzelnen Föderationen beachtliche Unterschiede im Umfang und in der Art der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und beim Verhältnis, das zwischen der Abhängigkeit der Regierungen und deren Unabhängigkeit besteht. Deutschland und Mexiko zum Beispiel zeichnen sich durch eng verflochtene zwischenstaatliche Beziehungen aus, während Kanada und Belgien eher dem Gegenteil zuneigen.

Föderationen sind keine statischen Gebilde; mit der Zeit muss die Verteilung der Befugnisse den sich wandelnden Notwendigkeiten und Umständen sowie den sich neu stellenden Problemen und Politikfeldern angepasst werden. In den verschiedenen Bundesstaaten wurden in unterschiedlichem Maße verschiedenste Verfahren angewendet, um einen Ausgleich zu finden zwischen dem starren Schutz der Interessen von Regionen und Minderheiten auf der einen Seite und der Pflicht, wirksam auf die sich wandelnden Rahmenbedingungen zu reagieren, auf der anderen Seite. Dazu zählen die formale Änderung der Verfassung, deren rechtliche Auslegung und Überprüfung, Anpassungen der zwischenstaatlichen Finanzströme sowie die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und zwischenstaatliche Vereinbarungen. In den USA, Australien, Deutschland, Brasilien, Mexiko und Nigeria zeigt sich bei der Entwicklung der Gewaltenteilung als Reaktion auf die sich ändernden Rahmenbe-dingungen ein allgemeiner Trend zur Stärkung und Ausweitung der Befugnisse des Bundes. Dies ist jedoch kein universeller Trend. In Widerspiegelung der Stärke der sie bildenden Gemeinschaften haben Kanada, Indien und Belgien stattdessen mit der Zeit eine stärkere Dezentralisierung erlebt.

Vergleichende Betrachtungen

In praktisch allen Föderationen werden gegenwärtig heftige Debatten darüber geführt, ob und wie die Verteilung der Befugnisse den sich wandelnden, beziehungsweise neuen Rahmenbedingungen anzupassen seien. Die Globalisierung und die regionale Integration, die Mitgliedschaft der Föderationen in supraföderalen Organisationen wie der EU oder Nafta, die starke Gewichtung marktwirtschaftlicher Systeme und der Vorteile wirtschaftlicher Dezentralisierung, sowie die Besorgnis hinsichtlich der Sicherheit vor Terrorismus machen es erforderlich, einen neuen Ausgleich zwischen Zentralisierung und Nicht-Zentralisierung und zwischen kooperativem und wettbewerblichem Föderalismus zu finden. Außerdem wurde erkannt, dass Bundesstaaten und die Gewaltenteilung im Bundesstaat nicht als starre Strukturen, sondern als sich entwickelnde Verfahren verstanden werden sollten, die innerhalb eines überbrückenden föderalen Rahmens eine kontinuierliche Ausbalancierung der internen Vielfalt ermöglichen. Die Verteilung der Befugnisse und Zuständigkeiten in den hier betrachteten Bundesstaaten sowie die Balance zwischen "Kooperation" mittels gemeinsamer Institutionen auf der einen Seite und der "Selbstbestimmung" der föderalen Einheiten auf der anderen Seite können in dieser Hinsicht in den Worten von Richard Simeon als "unvollendete Aufgabe" bezeichnet werden.