Die Schweiz: Auf der Suche nach einem Ausgleich zwischen Kooperation und Selbstbestimmung

SARAH BYRNE / THOMAS FLEINER

Die Schweiz ist ein bemerkenswert dezentralisierter Bundesstaat, der mehrere verfassungsrechtliche Instrumente nutzt, um eine Verschiebung von Befugnissen zur Zentralregierung hin zu verhindern. Während die meisten föderalen Länder als Reaktion auf die Globalisierung eine Tendenz zur Zentralisierung zeigen, kontrollieren die Kantons- und Lokalregierungen in der Schweiz noch immer die Mehrheit der Staatsausgaben und können wichtige politische Entscheidungen auf nationaler Ebene beeinflussen. Um sich an den Entscheidungsprozessen der Bundesregierung zu beteiligen, experimentieren die Kantone gegenwärtig mit kooperativem Föderalismus.

Die Schweiz, ein Land mit vier offiziellen Sprachen und zwei sich in der Vergangenheit im Konflikt befindlichen Religionen, verabschiedete ihre föderale Verfassung nach einem Bürgerkrieg im Jahr 1848. Als weltweit zweiter Staat mit einer föderalen Struktur wurde sie dabei stark vom

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amerikanischen Föderalismus beeinflusst. Die föderale Verfassung war ein Kompromiss zwischen den liberalen Kräften, die einen einheitlichen Staat befürworteten, und den konservativen Verteidigern der früheren Konföderation. Die Kantone behielten einerseits ihre ursprüngliche Autonomie in der Form von "Selbstbestimmung" innerhalb des Bundesstaates und teilten andererseits ihre Souveränität mit dem Bundesstaat. Für heikle Belange wie die Kultur, die Sprache, das Bildungswesen und das Verhältnis von Staat und Kirche blieben die Kantone zuständig. Gleichzeitig blieb das in der föderalen Verfassung verankerte Recht auf Religionsfreiheit gewahrt. Mit diesem System war die kleine konsensgetriebene Demokratie in der Lage, sich von einer ländlich geprägten Gesellschaft zu

einem hoch differenzierten modernen Staat zu entwickeln. Selbst in der heutigen globalisierten Wirtschaft kontrollieren Kantons- und Gemeindeverwaltungen noch immer zwei Drittel der Staatseinnahmen und der öffentlichen Ausgaben.

Die Bundesregierung ist verantwortlich für die Landesverteidigung, die Bürgerrechte, das Einwanderungsrecht, das Zivil- und Strafrecht, die wirtschaftliche Entwicklung, die Währung, das nationale Transportsystem und das Kommunikationswesen. Die Kantone ihrerseits sind verantwortlich für wichtige Teile der öffentlichen

Sicherheit und Ordnung, das Bildungswesen, die Sozialhilfe, das Gesundheitswesen und die Raumordnung. Trotz einiger Verschiebungen in den letzten 150 Jahren bleibt das Prinzip der "Subsidiarität" das Leitmotiv bei der Verteilung der Befugnisse und Zuständigkeiten. Das bedeutet, dass Aufgaben nur dann der Bundesebene übertragen werden, wenn sie diese Aufgaben effizienter erfüllen kann als die Kantonsebene. Darüber hinaus soll die Bundesregierung ihre Befugnisse nur dann ausüben, wenn sie dies effizienter tun kann als die Kantonsebene. Alles Restliche soll den Kantonen zur Ausführung überlassen bleiben.

Die Abtretung von Zuständigkeiten an unterschiedliche Regierungsebenen, die unabhängig voneinander handeln, verhindert in wirksamer Weise die Konzentration staatlicher Macht in den Händen einer einzigen Institution. Diese Aufteilung der Zuständigkeiten bezeichnet man als "Selbstbestimmung", da jede Regierungsebene unabhängig handelt. Artikel 3 der Bundesverfassung beschreibt das Grundprinzip der Selbstbestimmung in der Schweiz: Alle Zuständigkeitsbereiche sind kan-tonal, es sei denn, die Bundesverfassung bestimmt etwas anderes. Für die Mehrzahl der Bundesbefugnisse und Zuständigkeiten ist es nicht die Bundesregierung, die die Behörden zur Vollziehung der Gesetze stellt. Die Bundesgesetze sind jedoch für alle Regierungsstellen bindend, sowohl für die der Kantone als auch die des Bundes. Deshalb müssen die Kantone alle

Sarah Byrne / Thomas Fleiner

Bundesgesetze vollziehen, und im Streitfall haben die Bundesgesetze Vorrang vor den Kantonsgesetzen.

Nichtsdestotrotz sind in vielen Bundesgesetzen weite Zuständigkeitsbereiche ausdrücklich den Kantonen vorbehalten. Aufgrund der unterschiedlichen Größe, Geografie und Demografie der Kantone und dem multikulturellen Charakter der Bevölkerung kann die Bundesregierung der Unterschiedlichkeit der Kantone nur dadurch Rechnung tragen, dass sie ihnen einen großen Ermessensspielraum gewährt. Selbst innerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Bundes können die Kantone die Ausführung von Gesetzen den örtlichen Bedingungen anpassen und dadurch die lokale kulturelle Verschiedenheit berücksichtigen. Dies ist ein wichtiger Faktor in einem Land mit einer so ausgeprägten kulturellen Vielfalt wie der Schweiz.

Wegen des zentralisierenden Einflusses der Außenpolitik, des Umweltschutzes und der Sicherheit beispielsweise reicht Selbstbestimmung allein gewöhnlich nicht aus. Deshalb besitzen die Kantone ein weiteres Instrument, mit dem sie die Macht der Zentralregierung einschränken können: die "Kooperation". Bei bestimmten politischen Entscheidungen benötigt die Bundesregierung die Zustimmung der Kantone. Diese kann direkt durch die Kantonsregierungen zum Ausdruck gebracht werden, durch Volksbefragungen oder durch andere Formen der Repräsentation. So ist die Außenpolitik beispielsweise eine Aufgabe der Bundesebene, doch muss die Bundesregierung die Kantonsregierungen konsultieren und deren Ansichten berücksichtigen, bevor sie ein Abkommen unterzeichnen darf. In den Bereichen, in denen die Kantone Befugnisse an die Bundesregierung abgetreten haben, können sie den Entscheidungsprozess des Bundes durch kooperative Institutionen wirkungsvoll beeinflussen.

Ein Zentralisierungsprozess hat die Autonomie der Kantone nach und nach verringert, obwohl Befugnisse nur schwer von einer Ebene auf eine andere übertragen werden können. In einem System halbdirekter Demokratie müssen Verfassungsänderungen in einer Volksbefragung gebilligt werden. Aufgrund der größeren Rechenschaftspflicht auf lokaler Ebene als auf Bundesebene übertragen die Bürger und Bürgerinnen der Zentralregierung oft nur ungern mehr Befugnisse. Dennoch wurden seit 1874 in etwa 140 Verfassungsänderungen mehrere der umfassenden Kantonsbefugnisse an die Bundesebene abgetreten. Verglichen mit früheren Verfassungen legt die Verfassung von 1999 mehr Gewicht auf das Prinzip der Kooperation als auf das der Selbstbestimmung. Überraschenderweise hat dies nicht zu einer Stärkung der zweiten Kammer des Parlaments, das heißt der Vertretung der Kantone, geführt. Stattdessen haben sich die Organe der Kantonsexekutive direkter an den Entscheidungsprozessen der Bundesregierung beteiligt. Dieser kooperative Föderalismus ist eine neue und kreative Entwicklung in der Schweiz, die zu einer effektiveren Entscheidungsfindung und zu größerer Flexibilität führen kann.