Indien: Kontinuität und Wandel in der föderalen Union

GEORGE MA THEW

Seit mehr als einem Jahrzehnt spürt Indien den Druck nach mehr Dezentralisierung: Die Bundesstaaten verlangen ein größeres Mitspracherecht und mehr Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung. In Indien wird von den subnationalen Einheiten erwartet, dass sie einen Beitrag zur Stärke des ganzen Landes leisten, aber in jüngster Zeit haben die Bundesstaaten gegen jegliche politische Einflussnahme der Zentralregierung in Neu Delhi protestiert. So haben sie auch an der Akkumulation von Steuerbefugnissen durch die Zentralregierung Anstoß genommen, die sie finanziell schwächt. Dieser neue politische Druck bedeutet eine Umkehr des bisherigen Trends, der in einer graduellen Zentralisierung der Befugnisse und Zuständigkeiten bestand. Indiens komplexe föderale Struktur wurde in den Jahren 1949-1950, also in der Zeit unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit, eingeführt. Indien ist eine Union von Staaten, zu denen 28 vollwertige Bundesstaaten, sechs direkt von der Zentralregierung verwaltete Unionsterritorien, ein nationales Hauptstadtterritorium und mehr als ein Dutzend selbstverwal

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teter Teilstaaten wie die autonomen Regionen und die Bezirksräte zählen. All diese Regierungsstrukturen und die lokalen Gebietskörperschaften beziehen ihre Legitimation aus der indischen Verfassung (mit der Ausnahme von Jammu und Kaschmir, die ihre eigenen Verfassungen haben). Die Verfassung verteilt die Befugnisse sowohl symmetrisch (etwa durch den 7. Zusatzartikel zwischen der Bundesregierung und

derjenigen der Bundesstaaten) als auch asymmetrisch (durch mehrere Artikel, wie diejenigen, die sich ausschließlich mit den Stammesgemeinschaften, ethnischen Minderheiten und der geschützten Entwicklung ausgewählter regionaler und lokaler Völker befassen). Diese Struktur der Machtteilung und Machtverteilung bringt eine hochkomplexe Form des Föderalismus hervor.

Innerhalb Indiens sind sowohl zentralisierende Kräfte als auch dezentralisierende Kräfte

zu erkennen. Auf der einen Seite besteht die Notwendigkeit, die nationale Einheit und Integrität zu sichern; auf der anderen Seite stellt zusätzlich zu den vielen ethnischen und regionalen Unterschieden die wirtschaftliche Entwicklung in den einzelnen Regionen, Klassen und Kasten verschiedene Anforderungen. Obwohl die föderale Union aus einem komplexen Netz von Befugnissen, Institutionen und politischen Organen besteht, wird von jeder Regierungseinheit erwartet, dass sie, neben der Wahrung ihrer eigenen Identität und Integrität, der Union dient und sie stärkt.

Gemäß der Verfassung besteht die föderale Union aus lokalen und regionalen Organen, den Bundesstaaten sowie aus einer Unionsregierung (der nationalen Regierung), die die verschiedenen Strukturen der gemeinsamen Machtausübung koordiniert. Die Zentralregierung hat die Regelungsbefugnisse für eine große Zahl von Bereichen. Angelegenheiten von lokalem Interesse sind dagegen den subnationalen Einheiten zugeordnet. Zwar wird der Vorrang der Hoheitsgewalt der föderalen Teileinheiten von der Verfassung anerkannt, es kann jedoch vorkommen, dass einige Einheiten in unterschiedlichen oder ähnlichen Aufgabenbereichen mehr funktionale Aufgaben haben als andere. So ist beispielsweise die Hoheit der Bundesstaaten über das Grundschulwesen mehr oder weniger garantiert, für das Hochschulwesen müssen sie sie jedoch mit der Zentralregierung teilen.

Im Wesentlichen wurden der Unionsregierung drei wichtige Rollen übertragen: Erhalt der nationalen Einheit und Integrität, Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen und politischen Ordnung in den einzelnen föderalen Teileinheiten und Planung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Die Bundesstaaten stellen die verfassungsrechtliche Absicht und Sanktionierung dieser Befugnisse der Unionsregierung kaum infrage,

George Mathew

doch verlangen sie häufig verfahrenstechnische Transparenz und die Beteiligung am Entscheidungsfindungsprozess, besonders hinsichtlich der Machtausübung in der zweiten und dritten Rolle. Sie bestehen auf möglichst geringer Einflussnahme der Unionsregierung auf die Angelegenheiten der Bundesstaaten, besonders wenn diese unter dem Vorwand erfolgt, die verfassungsmäßige politische Ordnung innerhalb der Bundesstaaten wahren zu wollen. Diesbezüglich widersetzen sie sich insbesondere der Ausübung der Notstandsbefugnisse der Unionsregierung gemäß Artikel 356, der die Entsendung militärischer Kräfte erlaubt und damit die Gesetze der Bundesstaaten der Überprüfung durch den Präsidenten und der Genehmigung durch den Gouverneur unterstellt. Die allgemeine Klage lautet, dass die Unionsregierung unter dem Vorwand, nationalen oder öffentlichen Interessen zu dienen, eine große Zahl von Befugnissen im Bereich der Entwicklung angesammelt und unter ihre Kontrolle gebracht hat, die andernfalls den Bundesstaaten zugestanden hätten. Dies führte zur Anhäufung von hohe Erträge abwerfenden Einnahmequellen in den Händen der Unionsregierung und entsprechend eingeschränkten Einnahmemöglichkeiten für die Bundesstaaten.

Aus diesen Gründen fordern die Bundesstaaten, dass die Macht der Unionsregierung drastisch verringert wird. Viele hochrangige Kommissionen wurden damit beauftragt, dieses Thema zu untersuchen. Mit einer Ausnahme haben alle Kommissionen befunden, dass die Verfassung funktionstüchtig und flexibel genug ist, um zu erlauben, dass Befugnisse und Macht im Rahmen einer Dezentralisierung von der Unionsregierung an die Regionen abgegeben werden. Sie haben viele funktionale Veränderungen in den Beziehungen zwischen Union und Bundesstaaten vorgeschlagen. Eine dieser Kommissionen, die die Beziehungen zwischen der Union und den Bundesstaaten untersuchten, wurde von Richter R. S. Sarkaria geleitet und hat weit reichende Empfehlungen vorgelegt.

Um die Empfehlungen der "Sarkaria-Kommission" umzusetzen und die Harmonisierung der Beziehungen zwischen den einzelnen Bundesstaaten und zwischen den Bundesstaaten und der Union sowie die Koordination der Politik zu fördern, rief die indische Regierung 1990 den Inter-State Council (ISC) ins Leben. Der ISC arbeitet daran, zu einer Übereinstimmung hinsichtlich der möglichen Änderungen in der Struktur und dem Ablauf der zwischenstaatlichen Beziehungen zu gelangen. Es gelang dem ISC, ein gewisses Einverständnis zu erzielen, dass wichtige Bereiche der föderalen Beziehungen verbessert werden sollen. Andere Gremien wurden damit beauftragt, die Beziehungen zwischen den Bundesstaaten zu fördern. Mit Ausnahme des "North-Eastern Council" sind diese Beratungsgremien jedoch nicht funktionstüchtig oder von tief sitzender gegenseitiger Abneigung der Mitglieder geprägt.

Die jüngsten Änderungen im indischen Föderalismus haben zum Ziel, eine gute Regierungsarbeit dadurch sicherzustellen, dass private und

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öffentliche Partnerschaften auf allen Regierungsebenen möglich sind. Diese Agenda führt besonders auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Entwicklung zu einer Ausweitung der Autonomie der Bundesstaaten. Durch verschiedene Arten politischer und ver waltungstechnischer Dezentralisierung wird es ihnen gestattet, wettbewerbsorientierte Wirtschaftsreformen einzuführen. Sie sind nun in der Lage, selbst ausländische Direktinvestitionen anzulocken. Es ist ihnen auch gestattet, Reformen und Innovationen in ihrer Wirtschaft einzuführen und Befugnisse ihren Bedürfnissen entsprechend zu dezentralisieren. Das föderale System hat genug Flexibilität bewiesen, sich den Anforderungen der nationalen Einheit und der liberalisierten Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts anzupassen.