Nigeria: Überzentralisierung nach Jahrzehnten der Militärherrschaft

J. ISAW A ELAIGWU

In der Zeit zwischen seiner Unabhängigkeit im Jahr 1960 und der Amtsübernahme durch eine neue demokratische Regierung im Jahr 1999 hat sich Nigeria zu einem hochgradig zentralisierten föderalen Staat entwickelt. Der zerstörerische Bürgerkrieg in den späten 60er Jahren und die folgenden Jahrzehnte der Militärherrschaft haben die meisten Verantwortungsbereiche in die Hände der Nationalregierung gelegt. Viele der Bewohner und Bewohnerinnen dieses Land mit einer geschätzten Bevölkerung von etwa 130 Millionen Menschen, einer jährlichen Wachstumsrate von 2,6 Prozent und über 400 sprachlichkulturellen Gruppen sind wegen der übermäßigen Zentralisierung besorgt.

Nigerias Föderation ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, als viele Völker in einem Prozess der Eroberung und Konzessionsvergabe an britische Unternehmen ihre Unabhängigkeit an die britische Kolonialmacht verloren. Die Vereinigung verschiedener kolonialer Gebiete führte 1914 zur Entstehung der Kolonie Nigeria. Das Rechtssystem basiert auf

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dem englischen Common Law, der islamischen Scharia (in den nördlichen Bundesstaaten) und dem Gewohnheitsrecht.

Von 1946 bis zu Nigerias Unabhängigkeit im Jahr 1960 erfolgte eine graduelle Föderalisierung des Landes. Angesichts der Heterogenität des nigerianischen Staates und des gegenseitigen Misstrauens der einzelnen Gruppen suchten die nigerianischen Nationalisten in der Endphase der Kolonialzeit einen Mechanismus zur Aushandlung der notwendigen Kompromisse und entschieden sich deshalb für ein föderales Regierungssystem. Aus dieser Föderation mit einer schwachen Bundesregierung entwickelte sich bis 1999 ein hochgradig zentralistischer Staat. Eine ganze Reihe von Faktoren war dafür verantwortlich.

Ein erster war die hierarchische Struktur der Militärherrschaft. Das Militär herrschte in Nigeria nach dem Bürgerkrieg beinahe 30 Jahre lang. Aufgrund der militärischen Befehlsstruktur war es möglich, Befugnisse ohne großen Widerstand der subnationalen Einheiten zu zentralisieren. Ein zweiter Faktor war die Ausrufung des nationalen Notstands während des nigerianischen Bürgerkriegs in den späten 60er Jahren. Befugnisse, die die Bundesregierung an sich gezogen hatte, wurden nicht mehr zurückgegeben. Drittens verringerte sich die Ressourcenbasis der Bundesstaaten, da viele neue subnationale Staaten geschaffen wurden: Von lediglich drei Regionen wuchs ihre Zahl

auf 36 Bundesstaaten an. Viertens stehen die Steuereinnahmen aus der Erdölförderung der Bundesregierung zu, womit ihr der überwiegende Teil der Staatseinnahmen zufließen. Schließlich haben die Globalisierung, der internationale Handel und die Notwendigkeit, den Handel zwischen den einzelnen Bundesstaaten zu harmonisieren, der Bundesregierung ein weiteres Druckmittel gegenüber den Bundesstaaten an die Hand gegeben.

Als die neue demokratische Regierung im Mai 1999 ihr Amt übernahm, beklagten viele politische Aktivisten lautstark die übermäßige Zentrali-

sierung der Macht in den Händen der Föderation. Die neue Verfassung von 1999 erkennt drei Regierungsebenen an: die föderale, die der Bundesstaaten und die lokale. Hinsichtlich der Zuordnung der wichtigsten Politikbereiche und Zuständigkeiten enthält die Verfassung eine Liste mit den ausschließlichen Befugnissen der Föderationsebene, eine Liste mit konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnissen (wobei alle Restkompetenzen bei den Bundesstaaten liegen) und eine vierte Liste mit den Aufgaben der lokalen Gebietskörperschaften.

Die Liste ausschließlicher Befugnisse umfasst 68 Punkte, zu denen das Staatsbürgerschaftsrecht, die Einwanderung, die Verteidigung, das

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Polizeiwesen, die Außenbeziehungen, der Bergbau, die Kernenergie, die Regulierung der politischen Parteien und die öffentlichen Schulden der Föderation zählen. Die Liste konkurrierender Gesetzgebung beinhaltet die Bereiche Einnahmenverteilung, Wahlrecht, Hochschulen, technisches und höheres Bildungswesen, wissenschaftliche und technische Forschung sowie die Entwicklung von Industrie, Handel und Landwirtschaft. Zu den Aufgaben der lokalen Gebietskörperschaften zählen die Straßen, die Abwasserentsorgung und Müllabfuhr, die Registrierung von Geburten, Todesfällen und Hochzeiten, die Grundschul-, Er wachsenen- und Berufsbildung, die Landwirtschaft, die Gesundheitsleistungen und alle weiteren von den Parlamenten übertragenen Aufgaben.

Aber es herrscht nicht nur Besorgnis wegen der übermäßigen Zentralisierung, es werden jetzt auch Versuche unternommen, die zwischenstaatlichen Beziehungen in den sich überschneidenden Gesetzgebungsbereichen Sicherheit, Bildung, Wohnungswesen, Landwirtschaft, Gesundheitswesen und Wasserversorgung zu verschlanken. Zudem gibt es Forderungen, die Verfassung von 1999 trotz ihres noch geringen Alters zu überprüfen. Ein anderer Streitpunkt ist die nigerianische Polizei, die Teil der ausschließlichen Liste ist. Einige Bundesstaaten fordern das Recht, ihre eigenen Polizeieinheiten aufstellen zu dürfen.

Ergänzend zu den in der Verfassung festgesetzten Befugnissen und Zuständigkeiten werden jeder Regierungsebene auch finanzielle und monetäre Kompetenzen zugesprochen. Die Bundesregierung erzielt Einnahmen aus den Bergbaugebühren und -lizenzen, der Ölgewerbeertragssteuer, der Einkommenssteuer, aus den Import- und Exportzöllen und aus einer Vermögensertragssteuer. Die Bundesstaaten erzielen Einnahmen aus den Grundsteuern, der Erbschaftssteuer, den Lizenzgebühren, den Wettsteuern und den Umsatzsteuern. Die Einnahmen der lokalen Gebietskörperschaften stammen von den Vergnügungssteuern, der Vermögenssteuer und den Gewerbe- und Handelsgebühren. Da eine zunehmende Zahl von Nigerianern und Nigerianerinnen eine Dezentralisierung der Befugnisse verlangt, sind viele der Ansicht, dass die Steuerbefugnisse der einzelnen Regierungsebenen zum Vorteil der lokalen und bundesstaatlichen Regierungen und Ver waltungen umgekehrt werden sollten.

Bei den drei Regierungsebenen herrscht jedoch ein allgemeines Gefühl der Selbstzufriedenheit. Sie verlassen sich weitgehend auf die gesetzlich vorgeschriebenen Transfers vom Bundeskonto, das umgekehrt in hohem Maße von den Einnahmen aus den Erdölressourcen abhängt. Die Folge ist eine Verzerrung der Entwicklungsprioritäten der Regierung. Deshalb schlagen viele, die hinsichtlich der finanziellen Stärke des Landes Bedenken haben, eine aggressivere Politik der Einnahmenerzielung vor.

Bringt die Zukunft weitere Schwierigkeiten? Föderalismus entsteht wegen der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Bundesstaaten. Aber in

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Nigeria ist es die Regel, alle Bundesstaaten gleich zu behandeln. Gleich hohe Zahlungen von Subventionen, Gehältern und anderen Leistungen werden die regionalen wirtschaftlichen Unterschiede wahrscheinlich noch verschärfen. Auch in Zukunft wird es schwierig sein, die Ressourcen gerecht unter den einzelnen Gruppen in Nigeria zu verteilen. Es wird mit Sicherheit zu Spannungen und Belastungen führen, wenn in der Föderation Anpassungen vorgenommen werden.

Eine gute Regierung, eine weitsichtige Führung und eine starke Volkswirtschaft sind weitere Herausforderungen Nigerias. Viele Führer Nigerias verstehen nicht, welchen Nutzen der Föderalismus dem Land bringt. Manche Mitglieder der Eliten des Landes sehen den Föderalismus in einer technischen Dimension und fühlen sich den Werten der damit verbundenen Gewaltenteilung nicht verpflichtet. Die Bürger Nigerias verstehen weder ihre Verfassung noch das Konzept der Demokratie vollständig, noch wissen sie, wie die Rechte der einzelnen Bürger mit ihren Pflichten in der Föderation in Einklang gebracht werden müssen. Damit sich etwas bewegt, werden die Nigerianer und Nigerianerinnen einen besseren Weg der Zusammenarbeit finden müssen.