Argentinien: Zentralisierte Macht und Unterentwicklung

ANTONIO M. HERNANDEZ

Argentinien wird von jeher durch eine hohe Konzentration der Macht in der Hand der nationalen Exekutive in der Hauptstadt Buenos Aires geprägt. Buenos Aires bildet zudem auch den Mittelpunkt der wirtschaftlichen und finanziellen Macht im Land. Dieses Phänomen hat sich auf die Arbeitsweise der demokratischen Institutionen und auf die Einführung des Föderalismus ausgewirkt. Zwar bestehen die Gründe dafür zum Teil in der institutionellen Ausgestaltung und können mit Hilfe von Verfassungsoder Gesetzesänderungen korrigiert werden, aber sie sind ebenso sehr der politischen Kultur und dem fehlenden Respekt vor den Prinzipien der Verfassung und der Herrschaft des Rechts zuzuschreiben, wofür sich weniger leicht Abhilfe schaffen lässt.

In Argentiniens 1853 ursprünglich promulgierter nationaler Verfassung

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ist bei der Ausgestaltung des föderalen Systems und der Institutionen der Regierung sowohl der Einfluss der Verfassung der Vereinigten Staaten als auch der Zivilrechtstradition zu erkennen. Der Bundesstaat besteht aus der föderalen bzw. nationalen Regierungsebene, aus 23 Provinzen und der autonomen Stadt Buenos Aires, die auch die Bundeshauptstadt ist. Die Verfassung verteilt die Macht auf diese Ebenen. Die Einführung der Föderation im Jahr 1853 führte 14 bestehende Provinzen zusammen, die– wie dies oft der Fall ist bei Föderationen, die auf diese Weise entstanden sind – ihre eigenen Verfassungen und Regierungsorganisationen haben. Das institutionelle Modell beinhaltet eine Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative sowie die direkte Wahl des Präsidenten der Föderation, der Provinzgouverneure und des Regierungschefs (Jefe de Gobierno) der Autonomen Stadt Buenos Aires. Seit 1994 gibt es in Form von Volksbefragungen und Volksinitiativen, die es den Bürgern ermöglichen, dem Unterhaus eine Gesetzesvorlage vorzulegen, ein weiteres Instrument der direkten Demokratie.

Argentinien hatte wie andere Länder Lateinamerikas erhebliche Probleme mit der Stabilität seines politischen Systems. Dies wird zum Beispiel durch die Serie von militärischen Staatsstreichen sichtbar, die zwischen 1930 und 1983 stattfanden und sowohl die verfassungsmäßige Ordnung als auch die Demokratie beeinträchtigten. Diese Instabilität war ein wesentlicher Grund für die Zentralisierung der Macht. Mehrere aufeinander folgende Runden von Verfassungsänderungen haben die Umsetzung der Autonomie der Provinzen und Gemeinden behindert. Zwar ist Argentinien 1983 glücklicherweise zu einer demokratischen Regierungsform zurückgekehrt, aber die Leistungsfähigkeit seiner Institutionen bleibt in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. Die Geschichte der vergangenen 20 Jahre wird von der mangelhaften Qualität der Institutionen gekennzeichnet, da das Land einen Zustand fortgesetzter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Notfälle durchlebt hat. Dies lässt auf eine mangelnde politische und rechtliche Reife schließen, die es zu überwinden gilt.

Mit der Wiedereinführung der Demokratie im Jahr 1983 hat sich die Ausübung der Autonomie der Provinzen und Gemeinden verbessert, und das öffentliche Rechtssystem wurde im Rahmen von Reformen der Provinzverfassungen modernisiert. Schließlich bestätigte die Reform der Bundesverfassung im Jahr 1994 die Dezentralisierung der Befugnisse durch eine Stärkung der föderalistischen Prinzipien, die Reorganisation der kommunalen Autonomie und die Gewährung eines Sonderstatus für die autonome Stadt Buenos Aires.

Aber die mangelhafte Qualität der argentinischen Institutionen hindert das Land daran, dem föderalen Charakter der Verfassung zu entsprechen. Das Land findet keinen Weg aus der offenkundigen ökonomischen, finanziellen und sozialen Abhängigkeit der Provinzen von der Bundesregierung. Verhandlungen über eine finanzielle Beteiligung sind ohne

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Ergebnis geblieben, und obwohl der verfassungsrechtliche vorgegebene Zeitrahmen vor acht Jahren abgelaufen ist, gibt es immer noch keine Gesetzgebung.

Unglücklicherweise hat das System der Verfassung nicht ordnungsgemäß funktioniert und in der Folge auch die Institutionen der Republik und des Bundes nicht. Das Hauptproblem ist das Ungleichgewicht zwischen der Bundesebene und den Provinzen. Mithin liegt die wirkliche Macht in den Händen des Präsidenten und der

Gouverneure. Hinzu kommt die Vormachtstellung des Präsidenten und der nationalen Regierung gegenüber den Gouverneuren und den Provinzen, was zu einem Grad an Zentralisierung geführt hat, der weit von den Prinzipien der Verfassung entfernt ist.

Die oben angeführten politischen Probleme haben zu einer Situation geführt, die Argentinien daran hindert, solch komplizierte Angelegenheiten wie das föderale System und die zur Einhaltung der Prinzipien der Verfassung notwendigen Anpassungen in Angriff zu nehmen. Das republikanische System benennt als Ziele die Freiheit, die Gleichheit aller Menschen und die horizontale Gewaltenteilung. Der Föderalismus

als eine Form der Dezentralisierung ist nur in einem demokratischen politischen Regierungssystem denkbar, das die Macht näher zu den Menschen bringt und das als vertikale Kontrolle innerhalb des Staates fungiert. Eine tatkräftige Autonomie der Provinzen und Gemeinden setzt in der Tat die aktive Beteiligung der Bürger voraus, damit ein gutes Regierungssystem und die Kontrolle der Macht der nationalen Regierung gewährleistet werden kann.

Das Funktionieren der argentinischen Institutionen kann durch mehrere wesentliche Veränderungen verbessert werden:

Soweit zukünftige Trends betroffen sind, bestehen die besten Möglichkeiten für das Land in den Chancen der Globalisierung und der Vertiefung des Prozesses der Dezentralisierung. Aus diesem Grund ist

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das Word "glokal" geprägt worden, das besagt, dass die Menschen global denken, aber lokal handeln müssen. Angesichts der Risiken ist es unmöglich, das Ausmaß der Krise, durch die das Land geht, zu verheimlichen. Rechnet man die wirtschaftliche und soziale Unterentwicklung hinzu, so musste sich Argentinien in seiner ganzen Geschichte gezwungenermaßen immer auf die Lösung kurzfristiger Probleme konzentrieren, was das Land daran hinderte, die tieferen strukturellen Probleme zu lösen.