Kanada: Föderalismus hinter (beinahe) verschlossenen Türen

THOMAS O. HUEGLIN

Kanada unterscheidet sich von den meisten etablierten Föderationen dadurch, dass es zwei vollkommen unterschiedliche Sichtweisen seiner föderalen Struktur beheimatet. Die frankophone Einwohnerschaft Quebecs hat Kanada von Beginn an als einen Vertrag zwischen zwei gleichwertigen Partnern und Gründungskulturen angesehen, einer französischen und einer englischen. Als sich die kanadische Föderation von ursprünglich vier auf schließlich zehn Provinzen ausdehnte, sah sie darin eine Auflösung des Abkommens in ein zwischenstaatliches Zahlenspiel, in dem die einzige französischsprachige Provinz sich dauerhaft in einer Minderheitenposition im Verhältnis 9:1 befindet. Für die meisten frankophonen Kanadierinnen und Kanadier kann also, selbst wenn sie keine ausgesprochenen Separatisten sind, die Frage der Staatsführung nicht von dem größeren Thema des kanadischen Föderalismus getrennt werden, nämlich der Fähigkeit, Selbstbestimmung zu gewähren.

Für die meisten englischsprachigen Kanadierinnen und Kanadier ist das nicht der Fall. Für sie ist der kanadische Föderalismus nicht grund

Kanada 17

sätzlich mit Fehlern behaftet oder einseitig. Fachleute aus dem Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen würden einräumen, dass das System durch einen exekutiven Föderalismus dominiert wird, und dann hinzufügen, dass das bei der gegebenen regionalen und kulturellen Asymmetrie der Föderation wahrscheinlich unvermeidlich ist. Die wichtigste politische Frage des Landes kann nicht im Rahmen des parlamentarischen Prozesses auf einer Regierungsebene beantwortet werden. Sie bedarf einer gemeinsamen Vereinbarung aller Ministerpräsidenten: des kanadischen Premier-ministers und der Premierminister der Provinzen.

Beobachter mögen die Dominanz des exekutiven Föderalismus bestätigen, aber sie beklagen auch sein demokratisches Defizit, nämlich die Tatsache, dass die meisten wichtigen Entscheidungen, die das Leben der kanadischen Bürgerinnen und Bürger betreffen, das Ergebnis von Verhandlungen hinter verschlossenen Türen sind, von denen sowohl die Öffentlichkeit als auch der Prozess parlamentarischer Beratungen weitgehend ausgeschlossen werden. Sie sind im Allgemeinen auch unsicher, ob dieser Zustand unvermeidlich ist oder ob er durch die Reform anderer Regierungsinstitutionen angegangen und entschärft werden kann. Kanadas föderales System ist in eine parlamentarische Mehrheitsherrschaft in der Tradition des Westminster-Stils eingebettet, die den Interessen der Regionen und Provinzen wenig eigenen Handlungs- und Entscheidungsspielraum lässt. Gleichzeitig fehlt dem Senat, dessen Mitglieder vom Premierminister ernannt werden, die Fähigkeit, der terri-torialen Vielfalt angemessen Ausdruck zu verleihen.

Die Kanadier blieben den britischen Regierungstraditionen selbst treu, als die Amerikaner bewusst mit diesen brachen. Kanada legte über das britische Parlamentssystem ein föderales System, um die unterschiedlichen Interessen des englischsprachigen Kanada und von Quebec einzubinden. Diese Struktur erlaubte es den beiden Regierungsebenen, in ihren jeweiligen Machtbereichen autonom zu handeln.

Mit der Zeit wurde die duale Ausgestaltung des kanadischen Föderalismus mit Problemen hinsichtlich konkurrierender Befugnisse, der Überlegenheit der Finanzkraft des Bundes und der abnehmenden Bereitschaft Quebecs, in den Grenzen des föderalen Systems zu verbleiben, konfrontiert. Das parlamentarische System ist schlecht für eine derartige Komplexität und wechselseitige Abhängigkeit gerüstet. Das Mehrheitswahlrecht und das System strikter Parteidisziplin helfen, den Eindruck einer ungeschwächten Dominanz des Zentrums, der bevölkerungsreichsten Provinz Ontario, zu verstärken. Das Mehrheitswahlrecht hat auch den Effekt, dass Regionen einheitlicher zu sein scheinen, als sie dies in Wirklichkeit sind. Zum Nationalismus von Quebec kommt jetzt die zunehmend gereizte Stimme eines entfremdeten Westens hinzu.

18

Thomas O. Hueglin

Ein Lösungsvorschlag, den mehrere Provinzregierungen jetzt in Betracht ziehen, besteht in einer Veränderung des Wahlsystems. Auch eine Senatsreform wird diskutiert. Die kanadischen Senatoren werden nicht nur vom Premierminister ernannt, sie werden auch auf der Grundlage einer Regionalformel ausgewählt, die die westlichen Provinzen benachteiligt. Forderungen der westlichen Provinzen nach einem Senat des dreifachen "E" – das heißt ein Senat, der von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt (elected) wird und eine wirksame (effective) zweite Kammer mit

einer gleichen (equal) Anzahl von Senatoren pro

Provinz darstellt – haben im Rest des Landes wenig Unterstützung gefunden. Die meisten Beobachter halten es für ziemlich unwahrscheinlich, dass solch ein Senat nach amerikanischem Vorbild das erreichen würde, was das parlamentarische System nicht geschafft hat, nämlich die tiefen regionalen Unterschiede in pragmatischer Weise durch Kompromisse zu überbrücken. Deshalb bleibt die politische Übereinkunft auf der Exekutivebene der Regierung der folgerichtige kanadische Weg,

den Föderalismus in der Praxis umzusetzen.

Diese flexiblere Art des Vertragsföderalismus, wie ihn auch die Europäische Union pflegt, mag ein neuer und modischer Weg föderaler Staatsführung sein. Anstatt das Gesetzgebungs-verfahren im politischen Entscheidungsprozess aufzuwerten, bestünde die Idee darin, den Prozess der Exekutivregierung transparenter und umfassender zu machen. Dies könnte dadurch erreicht werden, dass der Prozess der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird – obwohl es wahrscheinlich die Geheimhaltung der Verhandlungen zwischen den "Ministerpräsidenten" ist, die die Findung von Kompromissen ermöglicht.

Die vor kurzem erfolgte Schaffung eines Rates der Föderation durch die Premierminister der Provinzen und Territorien kann eine rationalere Art der Entscheidungsfindung bewirken. Mit einem dauerhaften Sekretariat und einem Lenkungsausschuss, der von erfahrenen Beamten geleitet wird, ist eine Organisation geschaffen worden, die die Treffen der Minister pragmatischer und auf kontinuierlicher Basis vorbereiten könnte. Der Rat der Föde-ration wird Schwierigkeiten haben, die beiden berüchtigten Krankheiten in Kanadas zwischenstaatlichen Beziehungen – der völlige Stillstand bzw. die Konfrontation zwischen der Föderation und den Provinzen – zu heilen. Dem europäischen Modell folgend wird er das alte Konsens-Modell abschaffen und eine Form der qualifizierten Mehrheitswahl einführen müssen.

Schließlich gibt es ein allgemeines Gefühl der Dringlichkeit im Hinblick auf die unterentwickelte lokale Dimension des Föderalismus.

Kanada 19

Die meisten Kanadier leben heute in großen Ballungszentren, die ihre spezifischen Probleme aufweisen. Die Gemeinden sind administrative Schöpfungen der Provinzen, die der Agenda der Provinzen untergeordnet und finanziell zunehmend von der Freigebigkeit des Bundes abhängig sind. Ein formeller Platz am zwischenstaatlichen Verhand-lungstisch bleibt im Reich des Wunschdenkens. Dasselbe zur Frage nach Selbstbestimmung für die mehr als eine Million Ureinwohner gesagt werden. Eine Beteiligung an der Regierung beschränkt sich zu weiten Teilen auf die Ebene bilateraler Absprachen und liegt im Ermessen der Bundesregierung. Innovative Ansätze einer gemeinsamen Staatsführung sind nur in den Territorien zu finden und bleiben meist auf den Bereich wirtschaftlicher Entwicklungsprojekte beschränkt.