Schweiz: Kooperativer Föderalismus oder landesweite Standards?

WOLF LINDER / ISABELLE STEFFEN

Die Schweiz verdankt ihre Identität in vielerlei Hinsicht ihren politischen Institutionen. Die Gründer des Schweizer Nationalstaates konnten sich 1848 nicht auf eine gemeinsame Kultur stützen. Stattdessen sahen sie sich Menschen aus 25 Kantonen mit unterschiedlichen Religionen und historischen Wurzeln sowie vier verschiedenen Sprachen gegenüber. Die Lösung bestand in einer Kombination aus Demokratie und Föderalismus, die noch heute den Kern des politischen Systems der Schweiz bildet. Zwar hat sich dieser institutionelle Ausgestaltung in den letzten 150 Jahren als ziemlich erfolgreich erwiesen, heute sieht sie sich jedoch neuen Herausforderungen gegenüber.

Das zentrale Element des Schweizer Föderalismus war und ist die Autonomie der Kantone bei der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten. Sie ermöglicht es den Kantonen, ihre kantonsspezifischen Angelegenheiten zu regeln und ihre Probleme selbstständig zu lösen. Infolgedessen bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Kantonen hinsichtlich der politischen Institutionen, der Interaktion zwischen den

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politischen Akteuren und dem Ergebnis dieser politischen Wettbewerbe. So gibt es zum Beispiel signifikante Unterschiede hinsichtlich der Steuerbelastung und der Einkommensniveaus. Heute wird dieses hohe Maß an Verschiedenheit der Kantone jedoch aus mehreren Gründen infrage gestellt.

Erstens wird von einzelnen Kantonen die dezentrale Struktur im Grunde als ineffizient bezeichnet, da sie zu klein sind, selbstständig größere Projekte durchzuführen. Manche Ökonomen und Politikwissenschaftler vermuten, dass das Hauptproblem nicht in der zu großen Zahl an Kantonen besteht, sondern in ihrer unterschiedlichen Größe, die zu unterschiedlichen Niveaus bei den öffentlichen Leistungen und der Infrastruktur führt. So hat zum Beispiel ein kleiner Kanton nicht die Kapazität, komplexe Leistungen wie Universitäten und Spezialkliniken bereitzustellen. Kleinere Kantone treffen häufig Absprachen mit größeren Kantonen, die komplexere Leistungen des Bildungs- und Gesundheitswesen für sie erbringen. In anderen Bereichen wie der Kultur oder der Familienpolitik besitzen die kleineren Kantone jedoch eine reduzierte Infrastruktur und schlechtere Kosten-Nutzen-Verhältnisse bei den Leistungen.

Mit der Vorgabe einer politischen Linie oder zumindest allgemeiner Standards könnte die Bundesebene dazu beitragen, die Kosten und das Leistungsangebot zwischen den Kantonen anzugleichen. Dies würde

jedoch auf starken Widerstand stoßen, da es

keinen Konsens darüber gibt, welche Bereiche

zentralisiert werden soll. Darüber hinaus beste

hen die Kantonsregierungen auf ihrer Quasi-

Eigenstaatlichkeit, und sie schützen nicht nur

ihre politischen Einrichtungen, sondern auch

ihre politische Autonomie. Deshalb scheint es

gegenwärtig so, dass eine Mehrheit der Politiker

und Bürger noch immer die dezentrale Lösung

vorzieht, die Autonomie der Kantone verlangt

und mögliche Nachteile der Vielfalt in Kauf

nimmt.

Der zweite Punkt konzentriert sich auf die Beziehung zwischen den Kantonen und dem Bund. Historisch waren die Trennung und die Aufteilung der Befugnisse und Aufgaben zwischen dem Bund und den Kantonen eindeutig. Heute macht die Komplexität der modernen Infras-truktur, der Gesellschaft und der Wirtschaft eine Zusammenarbeit notwendig. Der überwiegende Teil der Bundesgesetzgebung wird von den Kantonen vollzogen und ist mit hohen Kosten und einer Einnahmenteilung verbunden. Dieser "kooperative Föderalismus" ist jedoch nicht frei von Problemen. Auf der einen

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Seite erhöht die Umsetzung der Bundesrichtlinien den Einfluss und das politische Gewicht der Kantone. Auf der anderen Seite fühlen die Kantone ihre Autonomie bedroht, wenn die Gesetzgebung der Föderation zu weit geht und den Kantonen keinen eigenen Spielraum lässt, was zu einer Art informeller Zentralisierung führt. Die Kantone stehen einheitlichen politischen Maßnahmen sehr skeptisch gegenüber, weil erst die Möglichkeit unterschiedlicher Lebensstile der föderalen Union zum Erfolg verholfen hat.

Eine dritte Streitfrage besteht hinsichtlich der politischen Beziehungen zwischen den Kantonen und dem Bund. Zu Beginn der Schweizer Föderation im Jahr 1848 war es von essentieller Bedeutung, die Kantone in die Entscheidungsprozesse des Bundes einzubinden und ihnen eine Stimme in nationalen Angelegenheiten zu geben. Dies wurde durch die Einführung eines aus zwei Kammern bestehenden Parlaments erreicht: mit einem Ständerat, in dem jeder Kanton unabhängig von seiner Größe über zwei Sitze verfügt, und einem Nationalrat, der nach dem Mehrheitswahlrecht direkt vom Volk gewählt wird. Damit ein Gesetz in Kraft treten kann, muss es von beiden Kammern angenommen werden.

Der Einfluss der Kantone auf nationale Angelegenheiten ruft jedoch weiterhin Kontroversen hervor. Es gibt Stimmen, die sagen, dass kleine Kantone – die von ihrer überproportionalen Vertretung im Ständerat profitieren – einen zu großen Einfluss auf die Politik des Bundes haben. Andere beklagen, dass der Ständerat keine wirklich föderale Kammer ist, weil bei Abstimmungen die gleichen Interessen – und Parteizugehörigkeiten – wirksam werden wie im Nationalrat. Die Kantone fordern deshalb mehr Einfluss auf der nationalen Ebene, sei es in Angelegenheiten der Zusammenarbeit mit der Zentralregierung oder sogar in Fragen der Außenpolitik.

Eine der erfolgreichsten Maßnahmen der Kantone war die Schaffung der "Konferenz der Kantonsregierungen". In den letzten 10 Jahren ist dieses Gremium nicht nur zum erfolgreichsten Lobbyisten der Kantone geworden, sondern auch zu einem wichtigen Partner im Dialog mit der Zentralregierung. Die Konferenz der Kantonsregierungen hat mit Sicherheit die Stimme der Kantone lauter werden lassen – jedoch nur in den Bereichen, in denen gemeinsame Interessen der Kantone bestehen. Die Legitimität dieses Gremiums ist allerdings häufig angezweifelt worden. Die Konferenz beruht nur auf der Zusammenarbeit der Spitzen der Kantonsregierungen, die Gesetzgeber der Kantone, die das Volk repräsentieren, sind nicht beteiligt. Die Zusammenarbeit zwischen den Kantonsparlamenten ist deshalb ein wichtiges Thema auf der Agenda der Föderation.

Die föderale Struktur wurde vor 150 Jahren eingeführt als politischer Kompromiss zwischen den progressiven, zumeist protestantischen

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Radikalen, die einen starken Nationalstaat wollten, und den ländlichen, überwiegend römisch-katholischen Konservativen, die überhaupt keine Föderation wollten. Sie war somit der Schlüssel zur Bildung einer Nation und zur Herausbildung einer Schweizer Identität. Seit jener Zeit hat sich die Schweiz zu einer modernen Gesellschaft entwickelt, in der die meisten historischen Konflikte verschwunden sind. Dennoch wollen sich die Menschen in den Kantonen voneinander unterscheiden: Die Autonomie der Kantone und die Selbstbestimmung sind gepriesene Werte. Dies hilft den Menschen dabei, erhebliche Schwächen einiger föderaler Strukturen und Verfahren zu übersehen. In diesem Sinne sind die symbolischen und integrativen Werte der Schweiz zu großen Hindernissen für institutionelle Reformen geworden, selbst wenn viele von einem rationalen Standpunkt aus sinnvoll sein könnten.