Deutschland: Ausbalancieren von Bundestag und Bundesrat sowie Regierungen und Gesetzgebern

STEF AN OETER

Das föderale System Deutschlands ist jahrzehntelang als Erfolgsgeschichte betrachtet worden, weil es dazu beigetragen hat, die verschiedenen Bereiche Nachkriegsdeutschlands zu integrieren und Deutschlands facettenreiche politische, wirtschaftliche und kulturelle Struktur zu schützen. Das föderale System hat darüber hinaus eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Integration der DDR gespielt. Seit den 90er Jahren ist jedoch in der breiten Öffentlichkeit und in den politischen Eliten eine wachsende Unzufriedenheit festzustellen. Das föderale System wird als Quelle politischer Lähmung betrachtet. Öffentliche Forderungen nach einer Reform des politischen Arrangements und der Wirtschaftsgesetzgebung enden in einem Morast aus unvereinbaren taktischen Zügen der politischen Parteien, die einander effektiv blockieren.

Das Hindernis für jede Art der Reform sind die unterschiedlichen Mehrheiten im Bundestag, der direkt gewählten Legislative auf Bunde

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sebene, und dem Bundesrat, der Vertretung der Länder auf der Bundesebene. Die Parteien, die sich im Bundestag in der Opposition befinden, haben eine Mehrheit im Bundesrat. Diese Situation ist 1948, als die Verfassung entworfen wurde, nicht vorhergesehen worden, war jedoch für die letzten drei Jahrzehnte

typisch. Im Fall herkömmlicher Gesetzgebung sind die unterschiedlichen Mehrheiten kein ernsthaftes Problem, da die Regierungsmehrheit im Bundestag das Veto des Bundesrates überstimmen kann. In einigen Gesetzgebungsbereichen kann der Bundesrat jedoch das Inkrafttreten eines Gesetzes nach Verabschiedung durch den Bundestag verhindern. Diese Patt-Situationen entstehen durch die wechselseitige Abhängigkeit des Bundes und seiner Mitglieder, den Ländern.

Ein wichtiger Bereich gemeinsamer Regierungsverantwortung ist die Finanzstruktur des föderalen Systems. Die Länder besitzen keine wirkliche Autonomie in finanzpolitischen Angelegenheiten, sondern sind von Gemeinschafts-

steuern abhängig, für die der Bundestag die Gesetzgebungshoheit besitzt. Als Kompensation für diese Abhängigkeit hat der Bundesrat das volle Vetorecht für alle diese Steuern betreffenden Gesetze.

Der andere zentrale Bereich gemeinsamer Regierungsverantwortung besteht in den Verwaltungsstrukturen und -verfahren. Die meisten Vorschriften des Bundes werden von den Länderverwaltungen umgesetzt, und die Exekutive des Bundes hat nur einige wenige Bereiche direkter Ver waltung. Weil die Bundesregierung ein starkes Interesse daran hat, die Gestaltung der Ausführung zu beeinflussen, kann der Bundesgesetzgeber Fragen der Verwaltungsorganisation und –verfahren regeln. Der Preis für diese Einflussnahme des Bundes jedoch ist in diesen Fällen erneut die volle Gesetzgebungsbeteiligung des Bundesrates, der sein Veto gegen ein von der Mehrheit des direkt gewählten Bundestages beschlossenes Gesetz einlegen kann.

Der Gebrauch dieses Instruments hat zu einer signifikanten Zunahme an Gesetzen geführt, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Ursprünglich als Ausnahme gedacht, sind solche Patt-Situationen zum üblichen Phänomen der legislativen Praxis geworden und machen über 50 Prozent der beschlossenen Gesetzesanträge aus. Die aktuellen Debatten zur Föderalismusreform konzentrieren sich sehr stark auf dieses Phänomen und auf eine Revision der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen. Die wesentlichen politischen Kräfte haben eine aus

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Stefan Oeter

Mitgliedern beider Häuser zusammengesetzte Reformkommission gebildet, die einen Vorschlag für eine Verfassungsreform vorbereiten soll. Die Bemühungen dieser Reformkommission verharren jedoch bis zum heutigen Tag im Stillstand.

Um das Problem des "exzessiven" Vetorechts zu lösen, hat die Reformkommission diskutiert, ob die Länder einseitig die in Bundesgesetzen festgelegten Standards für Ver waltungsstrukturen und –verfahren modifizieren sollten. Im Austausch für dieses Recht wären die Länder wahrscheinlich bereit, ihr Vetorecht bei Vorschriften zu Verwaltungsstrukturen und –verfahren aufzugeben. Die Bundesministerien widersetzen sich dieser Idee auf das Schärfste, aber sie scheint den Kern für einen Kompromiss zu enthalten.

Der Bundesrat ist eine Institution, die in den meisten anderen föderalen Systemen keine Entsprechung findet. Er ist das historische Erbe der ersten föderalen Regierung und wurde unter dem Kaiser von Kanzler Otto von Bismarck zwischen 1867 und 1871 entworfen. Er besteht aus Mitgliedern der Landesregierungen, die für ihr Bundesland als Gruppe abstimmen. Er spielt zwar bei der Einbringung von Gesetzen keine wichtige Rolle, ist jedoch dadurch sehr wichtig, dass er den Ländern in den Entscheidungsprozessen des Bundes eine Stimme verleiht. Wenn der Bundestag und der Bundesrat auf unterschiedlichen Gesetzentwürfen beharren, wird die Aufgabe, einen Kompromiss zu finden, an einen speziellen Ausschuss verwiesen, der aus Mitgliedern beider Häuser des Parlaments besteht. Dieser so genannte Vermittlungsausschuss bildet für die politische Transparenz eine Art "Schwarzes Loch", weil seine Verhandlungen geheim sind und Bundestag und Bundesrat seine Vorschläge nur als Ganzes annehmen oder ablehnen können. Das ganze System verwischt die politische Verantwortlichkeit und zwingt die Politiker routinemäßig dazu, mehr oder weniger willkürliche Kompromisspakete zu schnüren.

Während der Bund und die Länder im Gesetzgebungssystem untrennbar miteinander verbunden sind, sind die Strukturen der Exekutive klarer voneinander getrennt. Die Verwaltungen der Länder übernehmen den Großteil der Routineverwaltung, und es gibt nur wenige Bereiche direkter Bundesverwaltung. Das Gleichgewicht hat sich in den letzten Jahren jedoch durch die Schaffung neuer Regulierungsbehörden des Bundes für Telekommunikation, Postdienstleistungen, Energie und andere verschoben. Die Länder befürchten nun, dass sie langfristig auch ihre entscheidende Rolle in der Exekutive verlieren könnten.

Die Entwicklung der europäischen Integration ist ein zusätzlicher Faktor, der die Angst vor einem Verlust an Autonomie verstärkt. Mit der Zunahme des europäischen Gemeinschaftsrechts werden mehr und mehr Bereiche, die sich unter der Kontrolle der Länder befinden, in Brüssel reguliert. In den europäischen Entscheidungsprozessen werden die

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Länder jedoch nur durch die Bundesregierung vertreten. Einige Kompromisse, denen die Bundesregierung zum Nachteil der Bundesländer zugestimmt hat, haben den starken Argwohn der Länder gegenüber der europäischen Politik weiter genährt. 1994 schafften es die Länder, einen neuen "Europa-Artikel" in die Bundesverfassung einzuführen, der darauf abzielte, die Mitsprache der Länder bei europäischen Themen sicherzustellen. Der allgemeine Eindruck heute ist jedoch, dass dieser Schutz nicht richtig wirkt und die Mechanismen der Beratung und Beteiligung keinen wirklichen Einfluss haben. Die größeren Länder sind zu einer Politik des direkten Lobbyismus in Brüssel übergegangen und haben Landesvertretungen mit signifikanter Größe und Sachkenntnis aufgebaut. Für die kleinen Mitgliedsländer ist eine solche Strategie jedoch kaum erschwinglich.