Indien: Ein fortdauerndes Experimentieren mit einer Neudefinierung des Föderalismus

RAJEEV DHA V AN / REKHA SAXENA

Nach vier Jahren der Verhandlungen wurde im Jahr 1950 die indische Verfassung in Kraft gesetzt, um den damals 361 Millionen Menschen ein Regierungssystem zu geben. Das Land setzte sich aus einer immensen Anzahl von Menschen unterschiedlichster Religionen, Sprachen, Ethnien, Kasten und Gemeinden zusammen, die große wirtschaftliche Unterschiede aufwiesen. In den letzten 55 Jahren ist Indien, nun mit einer Bevölkerung von über einer Milliarde Menschen, zu einem Mikrokosmos der Welt selbst geworden.

Indiens föderales System basiert auf dem "British Government of India Act" aus dem Jahr 1935, das darauf ausgelegt war, Fragen der öffentlichen Ordnung und der Steuererhebung zu klären. Dem britischen Muster folgend wurde mit der indischen Verfassung ein starker, zentralistischer Föderalismus geschaffen, der genügend Spielraum zur Neudefinierung der Geografie des indischen Föderalismus und dessen Machtverteilung ließ.

Die Macht, die Geografie des indischen Föderalismus neu zu gestalten, ruhte im Zentrum beim Bundes- bzw. Unionsparlament, das durch ein

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einfaches Gesetz neue Teileinheiten schaffen oder bereits bestehende abschaffen konnte. Dies war notwendig, um die ehemaligen Fürstenstaaten zu integrieren und die regionalen Forderungen nach Anerkennung zu erfüllen. Sieben Mal hat das Unionsparlament zwischen 1956 und 2000 aus den bestehenden Bundesstaaten neue Bundesstaaten geschaffen. Dies geschah auf sprachlicher oder kultureller Basis, aber ohne eine hinreichende Konsultation der Gesetzgeber in den Bundesstaaten. Indien umfasst heute infolgedessen 28 Bundesstaaten und sieben Unionsterritorien. Die Bundesstaaten sind autonome Mitglieder der Föderation. Die Unionsterritorien werden von der Unionsregierung direkt regiert; zwei Unionsterritorien, Delhi and Pondicherry, haben jedoch eigene Volksvertretungen mit ihnen übertragenen begrenzten Rechten. Zwar ist die Befugnis der Unionsregierung, die Grenzen der Bundesstaaten neu festzulegen, von Seiten der Wissenschaft kritisiert worden ist, Indien durch die Ausübung dieser Macht ist es jedoch gelungen, seiner föderalen Regierungsform eine multikulturelle Dimension hinzuzufügen.

Im Interesse der geplanten Entwicklung hat sich die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen sowohl in Bezug auf die Verteilung der Befugnisse als auch auf die Fähigkeit, Geld aufzubringen, zwischen der Union und den Bundesstaaten stark zugunsten der Union verschoben. Gemäß Verfassung wurde die Verteilung der Einnahmen der Union einer Finanzkommission übertragen, deren Mitglieder von der Union ernannt werden. Im Jahr 2000 wurden die finanziellen Ansprüche der Bundesstaaten durch Verfassungszusätze erweitert. Es ist aber die zuvor erwähnte Finanzkommission, die darüber entscheidet, wie die Einnahmen der Union aufgeteilt werden.

Zwar hat Indien in der Praxis sehr aktive Gesetzgeber, es gab jedoch sowohl auf Unionsebene als auch auf der der Bundesstaaten eine entscheidende Verschiebung von legislativem hin zu exekutivem Föderalismus, der von gewählten Politikern und Staatsbeamten innerhalb eines parlamentarischen Systems ausgeübt wird. Zusätzlich zu der Tatsache, dass die föderale Gesetzgebung beiseite gedrängt wurde, sind es von der Union eingesetzte Organe der Exekutive, die – wie die Planungskommission und die Nationale Entwicklungskommission – für die sozioökonomische Planung verantwortlich zeichnen. Die Regierungen der Union und der Bundesstaaten interagieren miteinander auf informeller Basis. Obwohl die Verfassung einen interaktiven Rat der Bundesstaaten vorsieht, wurde ein solches Gremium erst 1990 ins Leben gerufen. Es hat sich als untauglich erwiesen und übt keine Macht und wenig Einfluss aus. Durch den Druck der Globalisierung, ihre Befugnisse, Abkommen zu unterzeichnen, dem Abkommen mit der Welthandelsorganisation, regionale Abkommen wie die South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) und die Probleme, die durch den grenzüberschreitenden Terrorismus, die Migration und ausländische

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Direktinvestitionen hervorgerufen werden haben die Befugnisse und der Einfluss der Union erheblich zugenommen.

Die Verfassung hat der Union umfangreiche "Notstandsbefugnisse" gegeben, die das Recht einschließen, den nationalen Notstand und die "Präsidialherrschaft" auszurufen, die zur Übernahme der Gesetzgebung und der Regierung eines beliebigen Bundesstaates führt. Ein externer nationaler Notstand wurde 1962 wegen des Indisch-Chinesischen Krieges ausgerufen. Zwischen 1975 und 1977 ermöglichte es ein interner nationaler Notstand, umfangreiche Befugnisse auf Indira Gandhis Kongress-Regierung zu übertragen. Während eines solchen nationalen Notstandes arbeiten die Legislative und die Exekutive der Bundesstaaten weiter. Während einer Präsidialherrschaft dagegen sind die Legislative und die Exekutive der Bundesstaaten inaktiv, und der Bundesstaat wird von der Legislative und der Exekutive der Union in der Form eines nicht gewählten Gouverneurs regiert, der in jedem Fall von der Union ernannt wird. Die Bestimmungen über die Präsidialherrschaft wurden undifferenziert missbraucht. Sie wurde in über 100 Fällen in verschiedenen Bundesstaaten angewendet – meistens um in den Bundesstaaten Regierungen der Opposition aus dem Amt zu entfernen. Solche Übergriffe erfolgen noch immer, allerdings seltener, da ein Urteil des Obersten Gerichts aus dem Jahr 1994 die Möglichkeit eröffnet, mit einer gerichtlichen Inter vention die verfassungswidrige Anwendung der Präsidialherrschaft zu unterbinden.

1994 erklärte das Oberste Gericht den Föderalismus zu einem unveränderbaren Bestandteil der Grundstruktur der Verfassung, die für das indische Regierungssystem grundlegend ist und nicht einmal durch Verfassungszusätze geändert werden kann. Dennoch sind Änderungen vorgenommen worden, sowohl um die Macht der Union zu stärken als auch um den Bundesstaaten bei der Verteilung der Einnahmen etwas Luft zu verschaffen. Wenig überraschend haben verschiedene Bundesstaaten – besonders Tamil Nadu 1971 und West Bengalen 1978 – mehr Macht und mehr Finanzmittel gefordert. Dies fand eine gewisse Berücksichtigung im "Bericht über die Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den Bundesstaaten" (1988) der Sarkaria Kommission, die den Forderungen der Bundesstaaten zwar aufgeschlossen gegenüberstand, jedoch nicht danach strebte, den Status quo umfassend zu verändern, sondern zu mehr Verfassungsdisziplin aufrief.

Der indische Föderalismus ging von der Annahme aus, dass sich die Föderation fest unter der Kontrolle der Legislative befinden würde. Dies hat sich jedoch im Ganzen als nicht zutreffend erwiesen. Ein stabiles parlamentarisches System bringt auch eine starke Exekutive hervor, die von der Verfassung beauftragt ist, unter eigenem Namen zu handeln und die Gesetzgebung zu vollziehen. Es ist deshalb unvermeidlich, dass die föderale Regierungsgewalt in die Hände der Exekutive übergeht,

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allerdings in einem geringeren Maße, als man vielleicht erwartet. In jeder Demokratie sehen sich die Regierungen den Wahlurnen gegenüber und müssen unterschiedliche Wünsche erfüllen. Die Pflicht zur Rechenschaftslegung gegenüber dem Gesetzgeber ist durch verschiedene Maßnahmen gestärkt worden. Aber am allerwichtigsten ist, dass die exekutive Gewalt durch neue Mechanismen der

Rechenschaftspflicht, die durch die Medien, sozialen Aktivismus, die Informationsfreiheit sowie Wahlen in den Bundesstaaten und in der Union entstanden sind, gezwungen wird, auf die Menschen einzugehen. In Indien haben die Verfassungsänderungen des Jahres 1992 die Macht auch dadurch näher zu den Menschen gebracht, dass mit lokalen Gebietskörperschaften eine dritte Ebene in die föderale Struktur eingefügt wurde. Trotz des unaufhaltsamen Aufstiegs des exekutiven Föderalismus können die nicht weniger unaufhaltsamen Forderungen nach einer demokratischen Regierungsform nicht ignoriert werden. Aber es ist klar, dass die alten Mechanismen zur Verteilung der Befugnisse und Verantwortungsbereiche auf die Union und die Bundesstaaten und die Streitschlichtung durch die Gerichte nicht mehr ausreichend ist. Sowohl die exekutive Föderation als auch die offenen und heimlichen Mechanismen der Interaktion

zwischen den einzelnen Bundesstaaten müssen im Rahmen einer demokratischen Rechenschaftspflicht neu gestaltet werden. Dies ist die Herausforderung für die Zukunft: die Versöhnung des Föderalismus mit der Demokratie. Vielleicht war die Frage eines Richters am Obersten Gericht Indiens, ob sich die indische Verfassung permanent in einem Zustand des "Seins" oder des "Werdens" befinde, in diesem Sinne gemeint.