Der nigerianische Föderalismus am Scheideweg

EBERE OSIEKE

Nigeria erhielt seine politische Unabhängigkeit im Jahr 1960. Aber wie viele andere Länder in Afrika, Lateinamerika und Asien wurde es danach nicht durchgängig demokratisch regiert. Das Militär intervenierte so oft, dass in den 45 Jahren der Unabhängigkeit nur 15 Jahre lang eine demokratische Regierung im Amt war. Bezeichnenderweise schafften die Militärregime nach ihrer jeweiligen Machtübernahme die Legislative und die Exekutive ab und setzten die entsprechenden Teile der Verfassung außer Kraft. Wenn also über legislative und exekutive Gewalt in Nigeria gesprochen wird, bezieht sich dies nur auf eine sehr kurze Zeitspanne, die allerdings durch Turbulenzen und die Erweiterung des Rechtssystems und der Verfassung ausgefüllt ist.

Die Verfassung Nigerias führte nach der Unabhängigkeit ein als Westminster-Modell bekanntes parlamentarisches Regierungssystem ein, das bis zum Januar 1966 Bestand hatte, als das Militär die Macht übernahm. Als das Militär die Macht im Jahr 1979 wieder abgab, wechselte Nigeria zu einem Präsidialsystem nach dem Vorbild der USA. Allerdings währte dieses System nur vier Jahre, bis erneut das Militär die Macht übernahm und die Zivilregierung des Missmanagements, der Inkom

Nigerien 29

petenz und Korruption beschuldigte. Eine neue demokratische Regierung übernahm am 29. Mai 1999 die Macht, und Olusegun Obasanjo (ein ehemaliger General und früheres Staatsoberhaupt während der Militärherrschaft) wurde Präsident des Landes.

Die Frage, ob ein parlamentarisches oder ein Präsidialsystem vorzuziehen sei, ist noch heute umstritten.

Die nigerianische Föderation besteht heute aus 36 Bundesstaaten und der Bundeshauptstadt Abuja. Es gibt eine gewählte nationale Legislative, die aus dem Senat und dem Repräsentantenhaus besteht, und ein föderales Gerichtswesen. Alle Bundesstaaten werden von einem Gouverneur regiert, der Chef der Exekutive ist und für den Bundesstaat die gleichen Funktionen und Aufgaben übernimmt, die der Präsident für die nigerianische Föderation ausübt. Jeder Bundesstaat hat eine aus einer Kammer bestehende Legislative und ein eigenes

Gerichtswesen.

Innerhalb der Bundesstaaten ist es zu keinen verfassungsrechtlichen Problemen bei der Kontrolle der Legislative und der Exekutive gekommen. Ausnahmen waren zwei oder drei Amtsenthebungsverfahren von stellvertretenden Gouverneuren und der Fall des Gouverneurs des Bundesstaates Anambra. Auf der Föderationsebene dagegen hat es einige Kontroversen hinsichtlich der Ausübung von legislativen und exekutiven Befugnissen gegeben.

Im Jahr 2000 änderte der Präsident in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte ein Gesetz, um es in Einklang mit den Vorschriften der Verfassung von 1999 zu bringen. Die Legislative behauptete jedoch, er hätte damit eine legislative Aufgabe übernommen und sich widerrechtlich ihre Befugnisse angeeignet. Im Mai 2004 erklärte der Präsident den Notstand im Bundesstaat Plateau im nördlichen und zentralen Teil Nigerias und beurlaubte den Gouverneur und die Legislative des Bundesstaates für eine Dauer von sechs Monaten. Viele Kommentatoren behaupteten, dass diese Maßnahmen verfassungswidrig waren.

Auch die Legislative ist beschuldigt worden, ihre Befugnisse in mehreren Fällen überschritten zu haben. Im Jahr 2002 fochten die Gouverneure einiger Bundesstaaten das von der Legislative der Föderation 2001 beschlossene Wahlgesetz mit der Begründung an, dass es verfassungswidrig sei, weil es unter anderem die Amtszeit der Vorsitzenden der lokalen Regierungen von den in der Verfassung bestimmten drei auf vier Jahre verlängerte. Das Oberste Gericht gab dieser Klage nach und erklärte die entsprechenden Teile des Gesetzes für ungültig.

30

Ebere Osieke

Aus der Kontrolle der Legislative und der Exekutive in den sechs Jahren der demokratischen Herrschaft seit 1999 haben die Nigerianerinnen und Nigerianer gelernt, dass dem Präsidenten eine enorme Machtvielfalt zu Eigen und die Macht allzu sehr im Zentrum konzentriert ist. Diese Situation hat das Präsidentenamt und die Mitgliedschaft in der Legislative der Föderation sehr attraktiv gemacht. Menschen aus den verschiedenen Teilen des Landes wetteifern nun darum, den Präsidenten zu stellen – manchmal ziemlich leidenschaftlich. Bis jetzt hat es die von der britischen Kolonialmacht geerbte föderale Struktur Nigerias, nach der der Norden allein größer ist als der Osten und der Westen zusammen, noch nicht ermöglicht, dass jede Region des Landes den Präsidenten stellen konnte. Der Norden stimmt nämlich in Präsidentschaftswahlen traditionell im Block ab, um automatisch die für die Wahl des Präsidenten notwendige Mehrheit sicherzustellen.

In den vergangenen Jahren jedoch hat sich aufgrund einer von verschiedenen Teilen der Föderation geäußerten allgemeinen Unzufriedenheit mit der bestehenden föderalen Struktur Nigerias ein Konsens herausgebildet, das Land in sechs geopolitische Zonen aufzuteilen: Nördliches Zentrum, Nördlicher Osten, Nördlicher Westen, Südlicher Osten, Südlicher Süden und Südlicher Westen. Der wesentliche Vorteil dieser Zonen besteht darin, dass sie den Minderheiten im Norden, die zum Nördlichen Zentrum gehören würden, eine eigene Identität geben würden, und ebenso den Minderheiten im Osten und Westen, die zum Südlichen Süden gehören würden. Ein weiterer Vorteil dieses Vorschlags besteht darin, dass das Präsidentenamt zwischen diesen Zonen rotieren würde, so dass jeder Bundesstaat Nigerias die Chance hätte, einmal den Präsidenten zu stellen. Dieses Amt wird nämlich so verstanden, dass es dazu dient, das Leben und das Wohlergehen der Menschen in der Region zu verbessern, aus der der Präsident gewählt wird.

Viele Menschen jedoch würden eine Aufteilung des Landes in Regionen vorziehen. Sie glauben, dass die sechs geopolitischen Zonen in Regionen mit Premierministern, Regionalparlamenten und Regionalministern umgewandelt werden könnten und dass die sechs Regionen dann die föderalen Einheiten bilden würden, während die gegenwärtigen Bundesstaaten als reine Verwaltungseinheiten weiter bestünden. Die neuen Regionen würden autonom ihre eigenen Angelegenheiten und Ressourcen verwalten und für die Sicherheit verantwortlich sein. Die Befugnisse und Aufgaben der Zentralregierung würden verringert und den Regionen übertragen werden.

Es existieren auch Vorschläge, nach denen der Präsident nur eine einzige Amtszeit von sechs Jahren und die Gouverneure der Bundesstaaten eine von fünf Jahren haben sollten. Gegenwärtig unterliegen beide Ämter einer Beschränkung auf zwei Amtszeiten von jeweils vier Jahren. Würden diese Maßnahmen beschlossen und umgesetzt, wäre die Macht des

Nigerien 31

Präsidenten und der Gouverneure erheblich eingeschränkt, und die Ämter würden weniger attraktiv sein.

Die Meinungen zu der Frage, ob Nigeria sein Präsidialsystem behalten, zu einer parlamentarischen Demokratie zurückkehren oder eine Mischung beider System einführen sollte, sind geteilt. Einige sind der Ansicht, dass das parlamentarische System für Nigeria das Beste sei, da es billiger komme, die demokratische Entwicklung und Verantwortlichkeit stärke und die legislative und exekutive Zusammenarbeit fördere. Diejenigen, die das Präsidialsystem beibehalten wollen, argumentieren jedoch, dass das parlamentarische System in den sechs Jahren nach der Unabhängigkeit ausprobiert worden sei und versagt habe, während das Präsidialsystem seit nunmehr zehn Jahren überlebt habe und deshalb fortbestehen sollte.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass sich der Föderalismus in Nigeria gegenwärtig an einem Scheideweg befindet. Die Suche nach einer wirklich akzeptablen Struktur geht weiter, während das Land weitermacht, so gut es eben geht.