Die Russische Föderation unter Putin: Vom kooperativen zum Zwangsföderalismus?

ALEXANDER N. DOMRIN

Russlands hochkomplexe föderale Struktur ist zu einem signifikanten Problem geworden, aber es könnte in Kürze durch die bevorstehenden Reformen gelöst werden. Präsident Putin begann nach seiner Wiederwahl im März 2004 seine zweite Amtszeit mit einer radikalen Initiative zur Umverteilung der Macht zwischen der Zentralregierung und den Regionen und zur Verringerung der Anzahl der föderalen Einheiten der Russischen Föderation. Die gegenwärtigen Reformen sind eine Fortsetzung der Versuche Putins, die Föderation vom Zentrum aus zu stärken und eine stärkere "vertikale Macht" im Land herzustellen.

Die Einführung der föderalen Verfassung von 1993 war nicht der Höhepunkt der russischen Geschichte oder der Entwicklung der russischen Verfassung, sondern es war der Beginn des russischen Experiments mit dem Föderalismus. Obwohl eine vollständige Abschaffung des Föderalismus in Russland in der näheren Zukunft sehr unwahrscheinlich ist, könnte die gegenwärtige Ausdehnung des Einflusses der Zentralregierung auf praktisch alle Bereiche des Lebens als ein Zeichen für den Übergang Russlands von einem "kooperativen" Föderalismus (der auf Verträgen zwischen dem föderalen Zentrum und den Föderationssubjekten basiert) zu einem "Zwangsföderalismus" (der auf einer föderalen Verfassung und der strikten Anwendung dieser Verfassung durch die Föderationssubjekte basiert) interpretiert werden.

Die Russische Föderation ist eine präsidiale Republik. Der russische Präsident – der als der "Bewahrer" der Verfassung sowie der Rechte und der Freiheit der Bürger bezeichnet wird – ist das Staatsoberhaupt und repräsentiert die Russische Föderation innerhalb des Landes und in den internationalen Beziehungen. Er oder sie ist ermächtigt, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Souveränität der Russischen Föderation, ihre Unabhängigkeit und ihre staatliche Integrität zu schützen, das

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koordinierte Funktionieren und die Zusammenarbeit der staatlichen Behörden sicherzustellen und den Orientierungsrahmen für die Innenund Außenpolitik der Russischen Föderation in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Gesetzen der Föderation zu definieren.

Es gibt in Russland drei verschiedene Gerichtssysteme: 1. das Verfassungsgericht (das 1991 eingeführt wurde); 2. die "regulären" Gerichte bzw. die Gerichte der allgemeinen Rechtsprechung

(einschließlich der Militärgerichte); und 3. die Schiedsgerichte (arbitrazh) oder Wirtschaftsgerichte. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass Russland nicht ein einzelnes oberstes Gericht des Landes hat. Alle drei obersten Gerichte – das Verfassungsgericht, der Oberste Gerichtshof (das oberste Gericht für die allgemeine Rechtsprechung) und das Oberste Schiedsgericht – genießen einen ähnlichen Status.

Das russische Parlament wurde kurz vor der Auflösung der Sowjetunion durch die Verfassungsänderung im Jahr 1990 in ein aus zwei Kammern bestehendes Parlament umgewandelt. Die Verfassung von 1993 behielt die Struktur mit zwei Kammern bei. Das Parlament, oder Bundesversammlung, besteht aus zwei Kammern: der Staatsduma und dem Bundesrat. Die Staatsduma setzt sich aus 450 Abgeordneten zusammen, der Bundesrat aus 178 Mitgliedern (die gelegentlich als Senatoren bezeichnet werden), wobei jedes der 89 Föderationssubjekte zwei Mitglieder stellt.

Die Verfassung teilt die Föderationssubjekte in drei Gruppen auf: die Republiken, die nationalterritorialen Einheiten (bekannt als Autonome Regionen und Autonome Gebiete) und die

administrativ-territorialen Einheiten (zu denen die Regionen, Territorien und die beiden Bundesstädte Moskau und St. Petersburg zählen). Diese Einheiten sind formal als "Subjekte" und nicht als Bundeseinheiten der Russischen Föderation definiert. Die Verfassung gewährt allen 89 Bundeseinheiten des Landes die gleichen Rechte und Pflichten. In der Praxis allerdings genießen einige Föderationssubjekte mehr Macht als andere. Dies macht Russland zu einer asymmetrischen Föderation.

Fragen des Föderalismus gehören in jüngster Zeit zu den Kernelementen weit reichender Reformen in Russland. Erstens wurde ein System des Verhältniswahlrechts für die Staatsduma eingeführt, und die Zusammensetzung der nächsten Duma wird allein in Abhängigkeit von den Parteilisten bestimmt. Dieses neue Gesetz schreibt vor, dass alle politischen

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Parteien mindestens 50.000 Mitglieder, die regionalen Parteigliederungen mindestens jeweils 500 Mitglieder haben müssen. Zweitens wurde das regionale Wahlsystem überarbeitet. Die neuen Wahlgesetze schreiben explizit vor, dass ab sofort alle Gouverneure der Territorien auf Vorschlag des Präsidenten durch die territorialen Gesetzgeber gewählt werden. Drittens begannen die russischen Behörden damit, Bundeseinheiten des Landes zusammenzufassen. Diese beiden letzten Reformen werden im Folgenden diskutiert.

Die russische Bundesregierung hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die darauf abzielen, den "ethno-territorialen Föderalismus" im Land zu beseitigen und damit den Status der ethnischen Republiken zu ändern und sie zu einfachen russischen Regionen zu machen. Die Duma hat ein Gesetz verabschiedet, das dem Präsidenten die Macht gibt, vom Volk gewählte regionale Führer, einschließlich der Präsidenten der ethnischen Republiken, aus dem Amt zu entfernen. Darüber hinaus ist Russland mit dem Ziel, ethnische und nicht-ethnische Einheiten in föderalen Distrikten zusammenzufassen, in sieben föderale Distrikte eingeteilt worden, von denen jeder aus 10 bis 12 Föderationssubjekten besteht. Die Distrikte werden von Repräsentanten des Präsidenten beaufsichtigt.

Die Tragödie von Beslan im Jahr 2004, in der tschetschenische und inguschetische Terroristen in einer Schule in der Stadt Beslan über 1.200 Geiseln nahmen und 330 Menschen töteten (ein Drittel davon Kinder), trieb Putin dazu, weitere Reformen für die regionalen Behörden einzuleiten. Der Präsident schlug vor, die Gouverneure zu ernennen, anstatt sie in direkter Wahl zu bestimmen. Daneben schlug er weitere Initiativen vor, die darauf ausgelegt sind, die Gesellschaft zu mobilisieren, den russischen Staat zu stärken, die Verwaltung der russischen Föderationssubjekte zu verbessern und sie in die Lage zu versetzen, auf die Bedrohungen und Herausforderungen der heutigen Zeit angemessen zu reagieren. Am 7. Dezember 2004 verabschiedete der Bundesrat ein neues Gesetz, mit dem die Direktwahl der Gouverneure im ganzen Land abgeschafft wurde. Seit das neue Recht in Kraft ist, sind 18 russische Gouverneure vom Präsidenten in ihrem Amt bestätigt worden, vier wurden entlassen. Diese Maßnahmen zur stärkeren Zentralisierung der Macht werden von der russischen Bundesregierung, von der politischen Elite und von der Öffentlichkeit als notwendig betrachtet, um das Land zusammenzuhalten.

Am 2. Juli 2005 gab Präsident Putin seine Pläne bekannt, einen Erlass zu unterzeichnen, mit dem viele der Befugnisse, die den Gouverneuren aufgrund seiner Regionalpolitik genommen wurden, wieder zurückgegeben werden. In einer Ansprache vor dem Stadtrat von Kaliningrad zum Thema der Verbesserung der föderalen Beziehungen betonte Präsident Putin, dass die Übertragung zusätzlicher Befugnisse an die Regionen kein Selbstzweck sei, sondern dabei helfen soll, das Wirtschaftswachstum in den Regionen zu fördern. Zu den Befugnissen, die übertragen werden sollen,

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zählen die Forstwirtschaft, die Umweltpolitik, die kulturellen Wahrzeichen sowie Bildung und Wissenschaft. Russischen Beobachtern zufolge wird die jüngste Initiative Putins den Gouverneuren insgesamt 114 ihrer ursprünglichen Befugnisse zurückgeben.

Dieser neue Ansatz zur Wiederherstellung der Macht der Gouverneure steht nicht im Widerspruch zu der allgemeinen Zentralisierungstendenz im Land. Darüber hinaus unterstützt Putins zuvor erwähnter "Kaliningrad-Bericht" die Idee, eine direkte föderale Kontrolle in finanziell insolventen Regionen zu etablieren. Die Unfähigkeit regionaler Behörden, ihre umfangreichen Befugnisse effektiv zu nutzen und die richtige Ver wendung der Finanzmittel der Region sicherzustellen, verschärft deren ökonomischen Probleme, erhöht die Arbeitslosenquote und stärkt letztendlich den Extremismus. Diese Argumente sind eine vernünftige Begründung der Ansicht, dass die direkte föderale Machtausübung aus Moskau eine notwendige und gerechtfertigte Maßnahme sei.