Kanada: Aufkommende Fragen in einem dezentralen Bundesstaat

ROBIN BOADW A Y

Für viele Beobachter ist Kanada die Verkörperung des klassischen Systems des Fiskalföderalismus. Die autonomen Provinzregierungen sind für die Bereitstellung vieler wichtiger öffentlicher Leistungen verantwortlich. Sie genießen ungehinderten Zugang zu allen wichtigen Steuerquellen und müssen einen großen Teil ihrer Einnahmen selbst erzielen. Zuweisungen des Bundes an die Provinzen sind an relativ wenige Bedingungen gebunden. Die beiden wichtigsten Arten von Zuweisungen sind ohne Auflagen gewährte Ausgleichszahlungen und gleiche Pro-Kopf-Blockzahlungen zur Unterstützung von Sozialprogrammen der Provinzen. Diese beiden Zuweisungen stellen sicher, dass die Provinzen über vergleichbare Finanzmittel verfügen um wichtige öffentliche Leistungen bereitzustellen, und sie gleichzeitig Anreiz haben Gesundheits-, Sozialhilfe- und Weiterbildungsprogramme anzubieten. Dadurch werden landesweite einheitliche Mindeststandards erfüllt, und eine wirkungsvolle Dezentralisierung der Entscheidungsfindung ermöglicht. Die Abkommen zwischen der Bundesebene und den Provinzen haben zu lehrbuchmäßiger Einkommens- und

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Umsatzsteuerharmonisierung geführt und Spielregeln für eine effiziente interne Wirtschaftsunion und eine faire und gerechte Sozialunion definiert. Die drei nördlichen Territorien erhalten zusätzliche Zahlungen, um ihnen zu ermöglichen, öffentliche Leistungen für die kleinen, weit zerstreuten Besiedlungen zu erbringen, und um ihre relativ geringe Finanzkraft angemessen zu berücksichtigen.

Jedoch sind neue Herausforderungen erkennbar. Die fiskalische Dezentralisierung hat gemeinsam mit der steigenden Nachfrage nach Gesundheits- und Bildungsleistungen, die einen großen Teil der von den Provinzen bereitgestellten öffentlichen Leistungen ausmachen, die Möglichkeit vertikaler und horizontaler Finanzungleichgewichte mit sich gebracht. Diese Herausforderung erstreckt sich auch auf die Gemeindeebene und die selbstverwalteten Kommunen der Aborigines, wo zum Teil der größte Bedarf besteht.

Zwei scheinbar widersprüchliche Elemente des kanadischen Bundesstaates werfen oft Fragen auf. Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass den Provinzen von der Verfassung die ausschließliche Gesetzgebungshoheit für wichtige Aufgabenbereiche wie Gesundheit, Bildung und Sozialhilfe übertragen wird, die Bundesregierung gleichzeitig aber die verfassungsmäßige Verpflichtung hat, wichtige öffentliche Leistungen in angemessener Qualität bereitzustellen und Chancengleichheit für alle Kanadierinnen und Kanadier zu gewährleisten. Da die wichtigsten öffentlichen Leistungen für die Erfüllung dieser Verpflichtung im Verantwortungsbereich der Provinzen liegen, verbleiben der Bundesregierung als Politikinstrumente lediglich an Bedingungen geknüpfte Zuweisungen an Regierungen und Individuen, also Elemente der so genannten "Ausgabenbefugnis" (spending power), die in der Fähigkeit der Zentralregierung besteht, Finanzmittel bereitzustellen und mit einer Zweckbindung für bestimmte Aufgaben der Provinzregierungen zu versehen.

Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass die Provinzen Eigentümer der in ihren Grenzen befindlichen natürlichen Ressourcen sind und das Recht haben, deren Nutzung zu besteuern. Gemäß Verfassung ist jedoch die Bundesregierung dazu verpflichtet, Ausgleichszahlungen zu leisten, damit alle Provinzen ausreichende Einnahmen zur Verfügung haben, um jeweils im angemessenen Rahmen bei vergleichbaren Besteuerungsniveaus vergleichbare Niveaus öffentlicher Leistungen bereitstellen zu können. Angesichts der Tatsache, dass die Ausstattung mit natürlichen Ressourcen eine substantielle Ursache für die fiskalische Ungleichheit zwischen den Provinzen ist, wird von einigen argumentiert, die Erfüllung der Ausgleichsverpflichtung widerspreche implizit der Provinzhoheit über die Einnahmen aus den natürlichen Ressourcen.

Die Hauptmerkmale des Fiskalföderalismus in Kanada sind eindeutig. Die Bundesregierung erfüllt typische nationale Aufgaben wie Verteidigung,

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Außenpolitik, Geldwesen sowie nationale Sozialversicherungsprogramme und Zuweisungen an die Provinzen. Die Provinzen und ihre Gemeinden sind verantwortlich für die wesentlichen öffentlichen Leistungen in den Bereichen Gesundheitswesen, Bildung und Sozialhilfe sowie in Angelegenheiten, die für die Provinzen und die Gemeinden von Interesse sind. Die Ausgabenprogramme des Bundes und der Provinzen sind demnach vergleichbar, aber ein großer Anteil der Ausgaben des Bundes besteht aus Finanztransfers an die Provinzen. Dennoch haben die Provinzen allmählich immer mehr Verantwortung für die Erzielung eigener Einnahmen übernommen. Dabei nutzen sie alle wichtigen Steuerarten. Das Einkommensteuersystem ist in Teilen harmonisiert: Die Bundesregierung erhebt die Steuern im Auftrag jener Provinzen, die sich bereit erklärt haben, die Steuerbemessungsgrundlage des Bundes anzuwenden, die im Übrigen aber frei sind, ihre eigenen Steuersätze zu bestimmen. Auch der Bereich der Umsatzsteuer ist zwischen den vier Provinzen, die ein Mehrwertsteuersystem eingeführt haben, harmonisiert. In mehreren Übereinkommen zwischen dem Bund und den Provinzen erkennen die Provinzen die Rolle der Bundesregierung bei der Gestaltung wichtiger von den Provinzen erbrachter öffentlicher Leistungen an, während die Bundesregierung zusichert, die Provinzen zu konsultieren, bevor neue Ausgabenbefugnisse initiiert werden.

Als Ergebnis hat sich die kanadische Föderation zu einem hochgradig dezentralisierten System entwickelt, das gleichzeitig ein in einem vernünftigen Maße harmonisiertes Steuersystem hat. Dies

führt dazu, dass die Provinzen in Bereichen wie Gesundheitswesen, Bildung und Sozialhilfe vergleichbare Programme bieten, diese aber in der Ausgestaltung ihrer spezifischen Eigenschaften so wählen können, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse und Präferenzen berücksichtigt werden.

Neueste Ereignisse und Trends setzen das System unter Druck. Angesichts einer für nicht tragbar erachteten Verschuldung kürzte die Zentralregierung ihre für Sozialprogramme bestimmten Finanztransfers an die Provinzen und fasste diese stattdessen in einer Gesamtzahlung zusammen. Vor diesen Kürzungen fanden kaum

Rücksprachen statt, und die Provinzen argumentierten, dass damit im Ergebnis ein Teil der Bundesschulden auf die Provinzen übertragen wurde. Im Gegenzug kürzten die Provinzen ihre Zahlungen an die Gemeinden. Dieses Problem eines angeblichen vertikalen Ungleichgewichts wird durch ein zunehmendes horizontales Ungleichgewicht verschärft, das zum Teil eine logische Folge der

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Dezentralisierung der Einnahmenerzielung an die Provinzen und des Anstiegs der Einnahmen aus natürlichen Ressourcen in lediglich einigen Provinzen ist.

Viele Beobachter sagen, die Zentralregierung habe ihren nationalen Auftrag aus dem Auge verloren hat. Andere argumentieren, dass sie mit den Provinzen nicht mehr in einer offenen, kooperativen und vorhersehbaren Art und Weise zusammenzuarbeiten. Die Spannungen haben sich dadurch verschärft, dass die Zentralregierung ihre akkumulierten Haushaltsüberschüsse für direkte Ausgabenprogramme verwendet, anstatt die Zuweisungen an die Provinzen wieder zu erhöhen. Die Antwort der Provinzen und Territorien war der Aufbau einer Institution, dem Council of the Federation, die sie besser befähigt, mit einer Stimme zu sprechen.

Die gleichen Anliegen betreffen auch die Regierungen der Gemeinden und die Gemeinschaften der Ureinwohner, wenngleich in unterschiedlicher Weise. Damit die Gemeinden in der Lage sind, die notwendigen öffentlichen Leistungen zu erbringen, um sicherzustellen, dass die Daseinsfürsorge für die Bürgerinnen und Bürger gewährleistet ist und ihre Unternehmen in einer zunehmend globalisierten Welt wettbewerbsfähig sind, muss das fiskalische Ungleichgewicht, das die Regierungen der Gemeinden spüren, beseitigt werden. Dringender noch sind die Finanzprobleme der Gemeinschaften der Ureinwohner. Die Einwohner dieser Gemeinschaften zählen zu den ärmsten im Land und haben in vielen Fällen keinen Zugang zu öffentlichen Leistungen. Jedoch ist das Problem nicht nur eine Finanzierungsfrage. Es ist auch eine Frage der Erbringung der Leistungen, da gleichzeitig ein Systemwechsel erfolgt von einem System, in dem die Zentralregierung einem sehr handlungsorientierten, paternalistischen Ansatz folgte, hin zu einem System, in dem die Gemeinden selbst mehr und mehr Verantwortung übernehmen. Beides sind noch ungelöste Aufgaben, die die Steuerpolitiker in den nächsten Jahren beschäftigen werden.