Der russische Föderalismus am Scheideweg

ALEXANDER DER YUGIN / GALINA KURL Y ANDSKA Y A

Russland wird in Kürze die im Jahr 2001 begonnene Einführung eines Programms des fiskalischen Föderalismus abschließen. Das Programm versprach Haushaltsdisziplin, ein transparentes System zwischenstaatlicher Finanzbeziehungen und eindeutig zugeordnete Aufgabenzuständigkeiten und Einnahmequellen. Obwohl das Programm eines der wenigen ist, das die russische Regierung erfolgreich umgesetzt hat, haben die Ereignisse in Russland seit dem Beginn des Programms zu der Frage geführt, ob es möglich ist, fiskalischen Föderalismus in einem Land aufrecht zu erhalten, das sich zunehmend vom politischen Föderalismus entfernt. Was auch immer die Antwort darauf sein mag, eines ist klar: die Einnahmenautonomie der Gliedstaaten ist ein Schlüsselfaktor für den Erfolg des fiskalischen Föderalismus– eines fiskalischen Föderalismus, von dem viele hoffen, dass er den Weg für eine Rückkehr zum politischen Föderalismus ebnet.

Zu Beginn der Entwicklung des russischen Föderalismus in den frühen 90er Jahren bot die Zentralregierung den Bundesstaaten so viele Kompetenzen an, wie diese für sich beanspruchten – ein Schachzug, von dem viele glauben, dass er das Land vor dem Auseinanderbrechen bewahrte. Die Autonomie der Bundesstaaten wurde jedoch schnell zu einem Hindernis für die Entwicklung des integrierten Landes. Um die zentrifugalen Tendenzen und die zunehmenden Asymmetrien in den bundesstaatlichen Beziehungen zu überwinden, legte die Regierung ein Programm des fiskalischen Föderalismus auf.

Im Verlauf der Programmeinführung legte die Regierung Gesetze vor, die die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen der Regierungen der Bundesstaaten und Gemeinden erweiterten. Die Gesetze brachten die Bundesgesetzgebung in Einklang mit der neuen Ordnung, in der die Ressourcen und Zuständigkeiten zentralisiert wurden, während die politische Macht dezentralisiert blieb. Die einzelnen Bundesstaaten behielten die Hoheit über einige wichtige Aufgabenbereiche (z. B. das Gesundheits- und Bildungswesen) und die Zentralregierung versprach, sich in diese nicht einzumischen.

Nach der Geiselnahme in der Schule von Beslan im September 2004 ergriff

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die Zentralregierung ernsthaftere Maßnahmen, die politische Macht zu bündeln. Zu den umstrittensten zählt, dass der Präsident die direkten Gouverneurswahlen umging und die Gouverneure selbst ernannte. Infolgedessen wurden die Gouverneure integraler Bestandteil der nationalen Exekutivgewalt, und eine wachsende Zahl von Kompetenzen der Zentralregierung wurde an die unteren Ebenen abgetreten, ein Prozess, der als "Delegation" bezeichnet wird. Damit wurde die Föderalismusstrategie Vladimir Putins klar: Die Zentralregierung ernennt die Regionalregierungen, überträgt ihnen Aufgaben und die entsprechenden Finanzmittel und behält ihre Ausgaben unter strikter Kontrolle. Für den Fall, dass öffentliche Mittel zweckentfremdet werden und sich die Lage

einer Region verschlechtert, verfügt der Präsident über die nötigen Mittel, dies umzukehren. Dieser Strategie haftet eine mögliche Gefahr an: Sobald die Zentralregierung damit beginnt, die Kontrolle über die Vollziehung der Bundesaufgaben durch die Regionen zu übernehmen, könnte sie auch versucht sein, die Kontrolle über regionale, unter die gemeinsame Hoheit der Zentralregion und der Regionen fallende Funktionen, an sich zu ziehen. Da die Regionen heute viele zusätzliche Aufgaben erfüllen, bei denen Interventionen der Zentralregierung nicht ausgeschlossen sind, ist diese Gefahr sehr real.

Hinzu kommt die Tatsache, dass die Regionen nur wenig Steuerautonomie genießen. Gegenwärtig existieren nur drei regionale und zwei lokale Steuern, verglichen mit der erstaunlichen Zahl von beinahe 50 Steuern der Zentralregierung. Da die regionalen und lokalen Haushalte in Russland durch Steuern und Zuweisungen der Zentralregierung und nicht durch die Besteuerung der Bürger vor Ort finanziert werden, können die Regionen von ihren Bürgern nicht zur Verant

wortung gezogen werden. In Russland sind die Unternehmen und nicht die natürlichen Personen die wichtigsten Steuerzahler. Als Folge davon sind die Gouverneure mehr daran interessiert, neue Unternehmen anzulocken, als die Lebensqualität der Menschen in ihrer Region zu verbessern.

Im Jahr 2004 wurden die Steuerquellen der Regionen und der Zentralregierung dauerhaft den Ebenen unterhalb der Föderation zugeordnet, was die Regionen weniger abhängig von den Haushaltsentscheidungen der Zentralregierung macht. Diese Änderungen haben jedoch zu keiner nennenswerten Stärkung der Einnahmenhoheit der Regionen geführt. Dieselbe missliche Lage ist auch für die Formel zur Berechnung der

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Ausgleichszahlungen zu konstatieren: Auf der einen Seite scheint ein formalisierter Ansatz für die Zuschüsse der Zentralregierung den Regionen eine größere finanzielle Unabhängigkeit zu bringen; auf der anderen Seite wird die Verteilungsformel von der Zentralregierung definiert und nach eigenem Gutdünken geändert.

Gegenwärtig gibt es in Russland kein Programm des Fiskalföderalismus, mit dem sich die eben geschilderte Lage verbessern ließe. Das Land ist sich über die Zukunft des Föderalismus nicht einig. Die meisten Experten sind der Meinung, dass die Gliedstaaten wegen der großen Unterschiede, die gegenwärtig in der sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklung, im Klima und bei vielen anderen Faktoren bestehen, nicht dieselben Zuständigkeiten und Kompetenzen übernehmen können. In den 90er Jahren erhielten starke Regionen im Rahmen bilateraler Vereinbarungen mit der Zentralregierung zusätzliche Kompetenzen, während das heute diskutierte Modell den schwachen Regionen die Freiheit nahm, über ihre Finanzen zu verfügen. Eine Rückkehr zum asymmetrischen Modell des Föderalismus erscheint fast unumgänglich.

Änderungen hinsichtlich der Methoden des regionalen Finanzausgleichs sind gegenwärtig eines der am meist diskutierten Themen in Russland. Viele glauben, dass die finanzielle Unterstützung der extrem schwachen Regionen unter strikter finanzieller Kontrolle durch die Zentralregierung erfolgen sollte und dass die Unterstützung hauptsächlich durch die Finanzierung von Investitionen gewährt werden sollte, die nicht nur für eine sondern für mehrere Regionen von Nutzen sind. Eine solche Regionalpolitik benötigt genau genommen keine föderale Struktur und begrenzt den Spielraum für den fiskalischen Föderalismus.

Es ist schwierig, den politischen und den fiskalischen Föderalismus miteinander zu versöhnen. Einige Experten meinen, dass Russlands gegenwärtige Rückkehr zu einem Einheitssystem nicht von Dauer sein wird – dass der fiskalische Föderalismus den Weg für eine Weiterentwicklung des politischen Föderalismus bereiten wird. Sie weisen auf die größere Finanzautonomie der Regionen aufgrund der Einnahmequellen (wie gering diese auch immer sein mögen), die ihnen 2004 zugewiesenen wurden; auf die formelbasierte Verteilung von Ausgleichszahlungen; und auf die Fonds der Zentralregierung, die eingerichtet wurden, um den Regionen zielgerichtete Zuschüsse zu gewähren. Andere sind der Ansicht, dass fiskalischer Föderalismus und lokale Selbstverwaltung nicht ohne echte Einnahmenautonomie möglich sind und dass fiskalischer Föderalismus und eine vertikale Verteilung der Exekutivgewalt nicht miteinander existieren können. In anderen Worten: Die hochgradig zentralisierte Regierung in Moskau sticht die Regionen in ihren Fähigkeiten, selbst wirkliche Macht auszuüben, aus. In einem Punkt würden viele zustimmen: Beim Versuch, den fiskalischen Föderalismus zu verbessern, darf das Land nicht darauf warten, dass eine ideale Form des Föderalismus gefunden wird.