Belgischer Föderalismus und Außenbeziehungen: Zwischen Kooperation und Pragmatismus

FRANÇOISE MASSAR T -PIÉRARD/ PETER BURSENS

Die belgische Föderation weist Besonderheiten auf, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Organisation ihrer Außenbeziehungen. Das dem belgischen Föderalismus zugrunde liegende Grundthema betrifft die Spannung zwischen den Bestimmungen der Verfassung einerseits und der praktischen Gestaltung der Außenpolitik andererseits.

Belgien entwickelte sich zwischen 1960 und 1993 von einem einheitlichen zu einem föderalen Staat. Und obwohl die föderale Verfassung von 1993 ein wichtiger Orientierungspunkt ist, ist die belgische Bevölkerung Zeuge einer fortdauernden Debatte über weitere Verfeinerungen der föderalen Architektur. Die verfassungsrechtliche Grundlage Belgiens ist jedoch fest gelegt. Sie besteht aus der Bundesebene und einer doppelt föderierten Ebene mit drei Sprachgemeinschaften – einer französischsprachigen, einer flämischen und einer deutschsprachigen – und den drei Regionen Flandern, Wallonien und der Hauptstadt Brüssel (die einen Sonderstatus genießt). Die doppelte Ebene unterhalb der Föderation

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spiegelt die kulturelle Heterogenität der belgischen Bevölkerung und die wirtschaftlichen Unterschiede der belgischen Regionen wider. Die Gemeinschaften sind für Politikbereiche wie Bildung, Kultur, Medien, Sprache und Gesundheitsvorsorge verantwortlich. Die Regionen zeichnen für Politikbereiche wie Verkehr, Industriepolitik, Beschäftigung, Raumund Strukturplanung, Umwelt, Landwirtschaft und Handelspolitik verantwortlich. Die Bundesebene bleibt für Politikbereiche wie Sozialversicherung, Rechtswesen, innenpolitische Fragen und die Verteidigung verantwortlich.

Der belgische Föderalismus ist eine Variante des legislativen Föderalismus. Das bedeutet, dass eine föderale Ebene in den Bereichen, in denen sie Gesetzgebungshoheit besitzt, auch über die Verwaltungshoheit verfügt. Die Bundesverfassung beruht nicht so sehr auf einem hierarchischen Prinzip, sondern gewährt den Gesetzen des Bundes und der Regionen einen gleichwertigen Status. Die fehlende Hierarchie wirkt sich auch darauf aus, wie die belgische Föderation international verbindliche Abkommen und Regeln nachkommt. Es wird dadurch notwendig, dass jede Ebene die Außenpolitik, die in ihren Hoheitsbereich fallen, selbst rechtlich ausarbeiten und vollziehen muss. Infolge der fehlenden Hierarchie gewährt die Verfassung den föderalen Einheiten das Recht auf eine eigene Außenpolitik im Bereich der Kompetenzen, die in ihren Hoheitsbereich fallen. Dies ist bekannt als das "in foro interno, in foro externo"-Prinzip.

Abgesehen vom internationalen Kontext verursacht die Tatsache, dass die Teileinheiten selbständige Außenbeziehungen unterhalten, kaum Probleme im Bereich der ausschließlichen Befugnisse. Aspekte der Bildungspolitik, die das Ausland betreffen, werden zum Beispiel von den drei Sprachgemeinschaften sowohl hinsichtlich der Auslandsvertretungen als auch beim Abschluss von Abkommen getrennt verwaltet. Die belgische Verfassung jedoch trennt die Verantwortung für viele Politikbereiche und macht dabei verschiedene föderale Einheiten für unterschiedliche Aspekte ein und derselben Politik verantwortlich. Europäische Umweltrichtlinien zum Beispiel berühren gleichzeitig die Aufgaben der drei Regionen und der Bundesebene. Diese gemeinsamen Aufgaben liefern einen ersten wichtigen Kontext für die praktische Gestaltung der Außenbeziehungen innerhalb der belgischen Föderation.

Ein zweiter bestimmender Faktor ist der internationale Kontext. Während die schiere Zahl und die Aktivitäten der regionalen Einheiten auf internationaler Ebene täglich zunehmen, gründen Einheitsstaaten und multilaterale Organisationen ihre Politik und deren Durchführung noch immer überwiegend auf dem traditionellen Modell des einheitlichen Nationalstaats. Die umfangreichen außenpolitischen Befugnisse der belgischen Regionen und Gemeinschaften jedoch bringen die ausländischen Partner in Verlegenheit. Das Ausland neigt dazu, in der belgischen

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Nationalregierung seinen direkten Gesprächspartner zu sehen. Damit ist die internationale Dimension der Beziehungen zwischen den föderalen Einheiten Belgiens und dem Ausland ein zweiter wichtiger Kontext, der im föderalen System Belgiens zu beachten ist.

Sowohl die inländischen Charakteristika des belgischen Föderalismus als auch die internationale Praxis haben jedoch die Verfassungsprinzipien der belgischen Außenbeziehungen aufzuweichen lassen. Im Wesentlichen hat eine Entwicklung von einer dualen und wettbewerblichen Form des Föderalismus zu einer kooperativen Variante des Föderalismus mit einem hohen Maß an Pragmatismus stattgefunden. Die Zusammenarbeit unter den föderierten Einheiten und zwischen den

Gliedstaaten und der Bundesebene ist im Fall konkurrierender Gesetzgebung und klassischer multilateraler Organisationen von elementarer Bedeutung. Dies trifft besonders für Belgiens Zusammenarbeit mit der Europäischen Union zu, die eine große Breite von Politikbereichen umfasst. Es wurden viele Koordinierungsmechanismen eingeführt, um Verwirrung zu vermeiden und sicherzustellen, dass auf internationaler Ebene von einem Verhandlungsführer eine Position vertreten wird.

Obwohl die Koordinierungsmechanismen gelegentlich ausgesprochen detaillierte Verfahrensregeln beinhalten, bleibt Pragmatismus ein grundlegendes Merkmal der belgischen Außen-

politik. Dieser Pragmatismus begründet sich darin, dass der Föderalismus in Belgien als ein Mechanismus Zur Gewährleistung dafür eingeführt wurde, dass die Interessen aller Partner in optimaler Weise wahrgenommen werden. Es hat sich herausgestellt, dass für eine erfolgreiche internationale Vertretung der Interessen der belgischen föderalen Einheiten die Beteiligung aller betroffenen Einheiten wann immer notwendig erforderlich ist. Um dieses Ziel zu erreichen, lernten alle Partner, die Außenbeziehungen in pragmatischer Art und Weise zu pflegen. Man hat festgestellt, dass eine erfolgreiche internationale Vertretung der Interessen der belgischen föderalen Einheiten es erfordert, dass alle betroffenen Einheiten beteiligt werden, wann immer dieses notwendig ist. Wenn die internationalen Partner oder multilateralen Organisationen auf einer einheitlichen belgischen Position oder einem einzigen belgischen Vertreter bestehen, bedeutet dies auch, dass die inländischen Partner verstehen müssen, dass ein flexibler Ansatz, Kompromissbereitschaft und die Benennung eines belgischen Vertreters die besten Ergebnisse erzeugen.

Schließlich hat dieser kooperative und pragmatische Ansatz zu einem guten Verhältnis und Verständnis zwischen den verschiedenen Teilen des

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Bundes geführt. Sie haben erkannt, dass wechselseitige Antagonismen nur dazu führen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges auf der internationalen Bühne abnimmt. Die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung führt zu viel besseren Ergebnissen, weil sie es ermöglicht, deren diplomatische Fähigkeiten und deren ausländisches Netzwerk optimal zu nutzen. In gewissem Sinn hat dieses Verständnis die innenpolitischen Konflikte von der Ebene der sprachlichen Aufspaltung zwischen Flandern und Wallonien dahingehend verschoben, dass die Aufspaltung systemischer Art ist und zwischen den föderalen Einheiten auf der einen und der Regierung der Föderation auf der anderen Seite besteht. Die Trennung zwischen der Bundesregierung und den föderalen Einheiten wird in den Außenbeziehungen besonders deutlich.

Es ist offenkundig, dass der belgische Föderalismus einzigartige institutionelle Eigenschaften aufweist, die für ausländische Partner schwer verständlich sind. Nichtsdestotrotz bilden die Realitäten des ausländischen Umfeldes einen signifikanten Faktor in der graduellen Ausgestaltung eines kooperativen und pragmatischen Ansatzes zur Gestaltung der Außenbeziehungen der föderalen Einheiten und der Bundesregierung und damit der gesamten belgischen Föderation. Trotz der Existenz verfassungsrechtlicher Vorgaben und detaillierter Koordinierungsmechanismen ist ein flexibler, pragmatischer und informeller Ansatz ein zentrales Element der belgischen Außenpolitik geworden. Dieser Ansatz kann jedoch nur dann effektiv funktionieren, wenn die föderalen Einheiten das föderale Regierungssystem unterstützen.