Schweiz: Die Bedeutung des Pragmatismus

DANIEL THÜRER / MALCOLM MACLAREN

Ohne Föderalismus, so wird argumentiert, gäbe es keine Schweiz. Das Land ist in vielerlei Hinsicht zu vielfältig, als dass hätte überleben können, wenn es politisch anders gegliedert wäre. Die Rolle des Föderalismus in den gegenwärtigen Außenbeziehungen der Schweiz ist ein Musterfall für diese Behauptung: Die Außenpolitik der Kantone, deren Beteiligung an der Außenpolitik des Bundes und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Städte sind hochaktuelle und sensible Themen, besonders im Hinblick auf die europäische Integration der Schweiz. Diese Themen erfordern es, dass die Politiker aller Regierungsebenen in der Schweiz in den Außenbeziehungen Pragmatismus walten lassen. Ohne die Flexibilität und Reziprozität, die es dem Föderalismus bisher ermöglicht haben, die unterschiedlichen Interessen des Landes wahrzunehmen, könnte sich die Schweizer Außenpolitik als Quelle schwerer Unzufriedenheit erweisen.

Die Kräfte der Globalisierung und der Internationalisierung haben in der Schweiz, wie auch andernorts, auf unterschiedlichen Ebenen, bei den unterschiedlichen Akteuren und bei einer Vielfalt von Themen zu einer Erweiterung und Vertiefung der auswärtigen Beziehungen geführt. Obwohl die Schweizer Bürger vom Staat erwarten, dass er in diesen

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Beziehungen vermittelt, zeigen sie wenig Interesse an föderalen Konzepten wie der Gewaltenteilung und dem Intergouvernementalismus. Sie sorgen sich mehr um die demokratischen Grundlagen und die Wirksamkeit der Politik: Schweizer Bürger erwarten, dass sie an den auswärtigen Beziehungen aller drei Regierungsebenen

beteiligt werden und von ihnen profitieren.

Die geänderten Umstände, in denen die Außenbeziehungen stattfinden, waren zum Teil verantwortlich für die Revision der Schweizer Bundesverfassung im Jahr 1999. Im ersten Absatz des Abschnitts, der den Zuständigkeiten in diesem Bereich gewidmet ist, stellt die neue Verfassung fest, dass die "auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes sind" (Artikel 54(1)). Gleichzeitig nimmt die Verfassung die Besorgnis der Kantone hinsichtlich der Außenbeziehungen und deren Offenheit zur Kenntnis. Insbesondere Artikel 54(3) stellt fest, dass der Bund bei seinen Handlungen Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone nehmen und deren Interessen

wahren soll. Artikel 55 fordert, dass die Kantone an den sie betreffenden außenpolitischen Entscheidungen des Bundes beteiligt werden, auch bei Entscheidungen, die die Europäische Union betreffen. Und Artikel 56 gibt den Kantonen das Recht, ihre eigenen Beziehungen zu anderen ausländischen Institutionen der unteren Ebenen in Übereinstimmung mit den Interessen anderer Kantone und der Eidgenossenschaft zu unterhalten. Diese Vorschriften sollen in Übereinstimmung mit den bewährten Schweizer Prinzipien der Subsidiarität und des kooperativen Föderalismus, sowie des gegenseitigen Respekts und der wechselseitigen Unterstützung der Regierungstätigkeit.

Wie haben die drei Regierungsebenen der Schweiz auf diesen neuen politischen und verfassungsrechtlichen Kontext reagiert? Was waren die Effekte, was sind die Risiken?

Die Verfassung setzt voraus, dass der Bund die Führung bei den Außenbeziehungen übernimmt und letztendlich auch die Verantwortung für deren Pflege. Bei der Interpretation dieser Rolle hat der Bund bisher ein beachtliches Maß an Respekt vor den Zuständigkeiten und Interessen der Kantone gezeigt. Er hat den Kantonen Freiraum für ihre direkten Beziehungen mit ausländischen Institutionen gegeben und dabei zur Kenntnis genommen, dass deren Belange auf diese Weise möglicherweise besser verwirklicht werden. In Übereinstimmung mit dem Prinzip des kooperativen Föderalismus hat der Bund die Kantone darüber hinaus informiert und konsultiert und ihnen, wenn dies angemessen war, ermöglicht, an internationalen Verhandlungen teilzunehmen. Er hat anerkannt,

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dass das Engagement der Kantone nicht nur zur Implementierung internationaler Abkommen beiträgt, sondern auch zur Qualität ihrer eigenen politischen Positionen und zur Zustimmung bei Vorschlägen, über die im Rahmen einer Volksabstimmung entschieden wird. Potentielle Probleme in den Beziehungen zwischen dem Bund und den Kantonen bestehen in diesem Bereich nicht so sehr in der Möglichkeit, dass die verschiedenen Regierungsebenen in denselben Angelegenheiten unterschiedliche Ansichten vertreten, sondern in den Vorschriften, die eine umfassende Beteiligung der Kantone an der Außenpolitik des Bundes vorsehen, weil der Bund daran gehindert werden könnte, schnell genug auf internationale Entwicklungen zu reagieren, insbesondere wenn das verantwortliche Personal der Kantone nicht schnell genug arbeitet.

Die Kantone haben versucht, aus ihrem möglichst großen Nutzen zu ziehen verfassungsmäßigen Recht, auf der internationalen Ebene zu agieren. Einem Recht, das wohl kaum bei anderen untergeordneten Regierungsebenen seinesgleichen findet. Die 16 Kantone, die an das Ausland grenzen, haben sich in den auswärtigen Beziehungen besonders engagiert und dabei eine "kleine Außenpolitik" in Bereichen wie Kultur, Energie und Tourismus verfolgt. Die Kantone haben den Bund auch dazu gedrängt, ihre Beteiligung an außenpolitischen Entscheidungen zu erhöhen, und haben die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) ins Leben gerufen, um ihre Standpunkte bekannt zu machen. Der Erfolg dieser Maßnahmen hängt jedoch vom Engagement der Mitarbeiter in den betroffenen Ministerien der Kantone ab. Weil die KdK in der Verfassung nicht vorgesehen und in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist, ist die demokratische Legitimität des Engagements der Kantone in der Außenpolitik angezweifelt worden. Diese Situation lässt die Frage aufkommen, ob formale Vorschriften zu Anerkennung der KdK erlassen werden sollten oder ob mehr Mitarbeiter der Exekutive der Kantone an ihrer Arbeit beteiligt werden sollten und wenn ja durch welches Verfahren.

Die grenzüberschreitenden Kooperationen der Städte haben zu dem dichteren Netz zwischen der Schweiz und dem Ausland beigetragen. Die Schweizer Städte und Gemeinden haben sich insbesondere in der europäischen Integrationspolitik engagiert und gemeinsam mit ihren Nachbarn auf Ver waltungsebene Verkehrs-, Abwasser- und andere alltägliche Projekte durchgeführt. Obwohl solche Projekte bei den Vertretern der Gemeinden, insbesondere in den Regionen entlang des Rheins und am Bodensee, zunehmend an Popularität gewonnen haben, bleiben die Bürger skeptisch, was den Nutzen solcher grenzüberschreitenden Zusammenarbeit angeht und müssen davon überzeugt werden, dass es sich nicht um eine Verschwendung ihrer Steuergelder handelt. Auch müssen die Gemeinden Vorsicht walten lassen, um ihre Zuständigkeiten nicht zu überschreiten; Genauso erwarten sie, dass ihre Anstrengungen grenzüberschreitender Zusammenarbeit vom Bund und den Kantonen

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nicht unnötig behindert werden, müssen sie den Gesetzen und Interessen der anderen Regierungsebenen Beachtung schenken.

Wenn, wie behauptet wird, Globalisierung und Internationalisierung Herausforderungen für die Außenbeziehungen der Schweizer Föderation darstellen, gilt das für die Integration des Landes in Europa in besonderer Weise. Diese komplexe Beziehung betrifft die Zuständigkeiten und Interessen aller Regierungsebenen, erfolgt über alle Institutionen und Mechanismen hinweg und kann, was das Wichtigste ist, vollkommen unterschiedliche Politik her vorbringen. Der Föderalismus könnte dadurch zu einem Hindernis bei der Schweizer Zusammenarbeit in Europa und darüber hinaus werden. Umgekehrt könnten die veränderten Bedingungen für die Außenbeziehungen die drei Regierungsebenen in der Schweiz dazu antreiben, in ihrem Herangehen an den Föderalismus innovativer und einfallsreicher zu sein. Sonderregelungen und Vereinbarungen auf Treu und Glauben könnten entwickelt werden, die mit diesem Problem fertig werden und die zwar nicht strikt den Vorgaben der Verfassung entsprechen, dafür aber ihre Aufgabe erfüllen. Das Ergebnis könnte eine Außenpolitik sein, die effektiver ist und die Wünsche der Bürger besser artikuliert. Das Endergebnis wäre kein schwächeres, sondern ein stärkeres Schweizer Gemeinwesen.