Kanada: Ein sich langsam veränderndes System

ROBER T YOUNG

Einer abgedroschenen Phrase zufolge sind die Gemeinden in Kanada "Geschöpfe der Provinzen". Verfassungsmäßig fallen sie unter die Zuständigkeit der Provinzen. Das bedeutet, dass das Land hinsichtlich der Beziehung Provinz-Gemeinden zehn unterschiedliche, durch Provinzgesetze geschaffene und von Regierungsstellen der Provinzen geregelte Systeme hat. Die Städte und ländlichen Gemeinden sind zudem in Bereichen wie Umwelt, Wohnungswesen und Polizei durch die provinzielle Gesetzgebung eingeschränkt. Die Kommunalverwaltungen sind von Transferzahlungen der Provinzregierung abhängig, die bis zu 15,6 Prozent ihrer laufenden Einnahmen ausmachen. Die Bundesregierung in Ottawa tätigt wenige direkte Transferzahlungen an die Gemeinden – nur 1,5 Prozent der laufenden Einnahmen. Die Gesamteinnahmen der Gemeinden (etwa 55 Milliarden kanadische Dollar) machen 4,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus.

Obwohl ihr Handlungsspielraum in hohem Maße eingeschränkt ist, stellen die Gemeinden auch eine Verantwortung für die Provinzregierungen dar, da sie auf die von den Gemeindeverwaltungen und deren Wählerschaft artikulierten Bedürfnisse reagieren müssen. Dies ist besonders

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in jenen Provinzen der Fall, die von Großstädten dominiert werden. Winnipegs Bevölkerung macht beispielsweise 60 Prozent der Gesamtbevölkerung Manitobas aus, und die drei Großstadtregionen Toronto (41 Prozent), Vancouver (51 Prozent) und Montreal (47 Prozent) spielen in Ontario, British Columbia bzw. Quebec eine bedeutende Rolle.

Auch die Bundesregierung stellt sich auf die städtischen Wähler ein. Die drei Metropolen allein wählen 85 der 308 Abgeordneten. Die meisten Bundesprogramme laufen in diesem urbanisierten Land in den Städten. Aber es ist notwendig, zwischen den Tätigkeiten der Bundesregierung in den Gemeinden und den Beziehungen der Bundesregierung mit den Kommunalregierungen zu differenzieren. Während die ersteren sehr breit gefächert sind, hat die Intensität der letzteren über die Jahre viele Abweichungen erfahren. Sie waren zuletzt in den 1970er Jahren, zu Zeiten des kurzlebigen Staatsministeriums für städtische Angelegenheiten (Ministry of State for Urban Affairs), sehr eng.

Gegenwärtig sind die Beziehungen zwischen dem Bund und den Gemeinden wieder im Wandel begriffen. Infolge der fortgesetzten Urbanisierung ist ein Bedarf nach Veränder

ungen entstanden. Die Neueinwanderer zieht es vor allem in die großen Ballungsgebiete, und namentlich in Westkanada ziehen die Ureinwohner von den Reservaten in die Städte.

Mit Zunahme der relativen wirtschaftlichen Bedeutung der Städte scheint der Erfolg der großen Stadtregionen vital für die Wettbewerbsfähigkeit Kanadas in der Weltwirtschaft. Kürzlich erfolgten größere urbane Zusammenschlüsse, und Aufgabenübertragungen auf die kommunalen Regierungen haben diese ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zum Teil infolge dieser Übertragungen haben sich die kommunalen Regierungen maßgeblich dafür eingesetzt, finanzielle Unterstützung zu erhalten. Die Gemeinden argumentieren, sie seien zu abhängig von der Grundsteuer und dass es zu finanziellen Unausgeglichenheiten führe, wenn sie gezwungen würden, trotz des dringenden Bedarfs an Mitteln für Dienstleistungen und Infrastruktur die Ausgaben einzuschränken.

Dieser Druck hat dazu geführt, dass sich der Bund nur schleichend auf Veränderungen zubewegt. Die Einkommenslage hat sich verbessert, da die Bundesregierung die Transferleistungen für Infrastruktur seit 1993 beständig erhöht hat. 2005 wurde den Gemeinden im Rahmen eines "New Deal for Cities" die Zahlung der Mehrwertsteuer des Bundes vollständig erlassen, und sie werden – zusammen mit speziellen Mitteln für

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den öffentlichen Nahverkehr – jährlich mit etwa 1 Milliarde kanadische Dollar an der Benzinsteuer beteiligt. Aber diese Steuererleichterungen und Transferzahlungen scheinen nie zu genügen, und die letzten Transferleistungen waren weder beständig noch vorhersehbar. Daher verlangen die Gemeinden eine Beteiligung an schnell wachsenden Einnahmequellen wie der Einkommens- oder Mehrwertsteuer. Die Gegner meinen, die Gemeinden sollten die bestehenden Steuerbefugnisse, Nutzungsgebühren und Anleihen besser nutzen.

Es gibt Fragen, die umstritten sind. So besteht Uneinigkeit darüber, ob die Bundesregierung ihre Investitionen auf die großen Städte konzentrieren oder die Geldmittel gleichmäßiger verteilen soll. Auch über die Ansicht, dass "strategische Investitionen" fast überall gemacht werden können und dass die Probleme des Niedergangs der ländlichen Gegenden Aufmerksamkeit verdienen, ist man sich nicht einig.

Die Größe der Gemeinden ist ebenfalls ein Problem. Zwar sehen die Gemeindegesetze der Provinzen Gleichheit bei Finanzen und Aufgaben vor, aber es gibt besondere Regelungen für ländliche Gegenden und neuestens in einigen Fällen auch für mehr Autonomie der größeren Städte (der neue "City of Toronto Act" und der Contrat de ville" mit "

Montreal). Auch haben einige Städte durch Aushandlungen von Dreierabkommen – wie beispielsweise das Vancouver's Urban Development Agreement "einen Platz am Tisch" erlangt. Aber ein solcher Ansatz zum gemeinsamen Handeln steht nicht allen Gemeinden zur Verfügung.

Die gemeinschaftliche Beschlussfassung hat auch ihre Nachteile. Das Verfahren kann schwerfällig sein und hohe Transaktionskosten verursachen. Unklarheiten darüber, wer für welche Entscheidung verantwortlich ist, kann zu Problemen hinsichtlich der Rechenschaftspflicht führen. Aber die Befür worter argumentieren, dass sich bessere informierte Gemeinden verbessernd auf die Politik auswirken; wenn die Gemeinden schon zur Umsetzung der Initiativen übergeordneter Behörden benötigt werden, müssten sie bei der Politikgestaltung auch beteiligt werden.

Allerdings bereiten den Gemeinden ihre mangelnden Kapazitäten Schwierigkeiten. Die Gemeindeverwaltungen verfügen nur in einzelnen Aufgabenbereichen über spezialisierte fachliche Kompetenz. Kleinere Städte beschäftigen nur wenige Politikberater. Es besteht allgemein auch die Meinung, dass es auf Gemeindeebene an politischen und administrativen Spitzenkräften mangelt. Man hört jedoch auch die Meinung, dass durch bessere Entlohnung und mehr Verantwortung gut ausgebildete Kräfte angezogen werden könnten.

Wie weit die Gemeinden in mehrstufige Beschlussfassungen miteinbezogen werden, dürfte auch vom jeweiligen Politikfeld abhängig sein. So sind Gemeindebehörden sehr kompetent in Angelegenheiten der Infrastruktur. Die Stadtverwaltungen machen sich ebenso Sorgen um die

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hohe Armutskonzentration und die gesellschaftliche Ausgrenzung der Einwanderer beziehungsweise der in der Stadt wohnhaften Ureinwohner. Die Gemeindebehörden vor Ort sind wahrscheinlich am besten befähigt, Randgruppen in neue ortsbezogene Initiativen einzubeziehen.

Für einen Wandel einzutreten birgt auch seine Probleme. Zwar sind auf Provinzstufe seit langem Interessenverbände der Gemeinden tätig, in mehreren Provinzen sind sie jedoch aufgesplittert. Landesweit wirken 90 Prozent aller Gemeinden in der Federation of Canadian Municipalities (FCM), einer erfolgreichen Interessengruppe, mit. Der größte Teil des Drucks, der auf die Bundesbehörden ausgeübt wird, geht vom Big City Mayor’s Caucus des FCM aus, dessen Mitglieder besondere Interessen haben. Da die Gemeindepolitik in Kanada im Allgemeinen überparteilich ist, kann kein Druck durch die Parteikanäle nach oben ausgeübt werden; in einzelnen Gemeinden konnten Interessenkoalitionen wie die Toronto City Summit Alliance jedoch Einfluss auf die übergeordneten Behörden ausüben.

Sind also die Probleme der Gemeindebehörden ein Problem der Bundesbehörden? Einer Auffassung nach überschreiten die wichtigsten Belange der großen Stadtregionen – Landnutzung und Zersiedelung, Umwelt und Verkehr – die Gemeindegrenzen und machen damit die Provinzbehörden unvermeidlich zur ausschlaggebenden strategischen Leitinstanz für städtische Angelegenheiten. Die finanzielle Ausrichtung auf die Bundesbehörden nimmt bloß die Provinzbehörden aus der Verantwortung. Andererseits haben Maßnahmen der Gemeinden wie beispielsweise in der Umweltkontrolle und der Polizeiarbeit gegen den Terrorismus auch externe Auswirkungen, bei der auch der Bund eine gewisse Rolle spielen könnte. Der zwingende Bedarf an Infrastruktur ist wohl auch von nationaler Bedeutung.

Die gegenwärtige Bundesregierung ist wie jede mögliche Nachfolgerin einer Einmischung in die Kompetenzbereichbereiche der Provinzen abgeneigt, besonders in Quebec, wo mehrere aufeinander folgenden Regierungen die Kontrolle der Provinz über die Gemeindeangelegenheiten heftig verteidigt haben. Daher ist zu vermuten, dass neue Ausgaben eher den Provinzbehörden zugehen als den Gemeindebehörden. Es gibt jedoch für die Bundesregierung viel zu tun in den Städten. Die Gemeinden werden weiterhin Druck ausüben, und mit all den im Unterhaus auf dem Spiel stehenden Sitzen wird sich das System wohl, wenn auch nur schleichend, auf komplexere zwischenstaatliche Strukturen zubewegen.