Partner im Bereich der Entwicklung: Lokale Gebietskörperschaften in Indien

RAKESH HOOJA / GEORGE MA THEW

Schon vor der Unabhängigkeit, noch unter britischer Herrschaft, hatte der Föderalismus in Indien zwei rechtlich und administrativ etablierte, klar definierte Regierungsebenen: die Union und die Staaten. Die 28 Staaten und sieben Unionsterritorien sind geografisch gesehen riesig; viele haben die Größe europäischer Länder. Die geografische, administrative und gesellschaftliche Distanz zwischen der Bevölkerung und der Unionshauptstadt ist deshalb gewaltig.

Die Regierungen der Staaten nutzen deshalb die Distrikte als Verwaltungseinheiten. Indien hat gegenwärtig 607 Distrikte. Der District Collector – auch Deputy Commissioner oder District Magistrate genannt – ist der administrative Leiter. Er wird von einer Anzahl District Level Officers (DLOs) unterstützt, die verschiedenen Abteilungen der Staatsregierung angehören. DLOs stellen die Verwaltung und setzen Entwicklungsprogramme um.

Vor der 1947 erfolgten Unabhängigkeit Indiens erließen einige Gebiete so genannte Village Panchayat Acts zur Schaffung von Dorfräten in ländlichen Gebieten sowie Gemeindegesetze zur Schaffung von Gemeindeorganisationen in städtischen Gebieten. Aus Furcht, die oberen Kasten und dominanten sozioökonomischen Gruppen bzw. Eliten könnten die

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Dörfer weiter beherrschen, indem sie die Macht in den Dorfräten übernehmen würden, wenn diese zu wichtigen Körperschaften gemacht würden, wurden in der Verfassung Indiens nach Erlangung der Unabhängigkeit keine Bestimmungen hinsichtlich der Dorfräte getroffen. Sie fanden nur in den Direktiven zur Staatspolitik Erwähnung, welche jedoch nur Staatsrichtlinien ohne rechtliche Durchsetzbarkeit sind.

Erst 1958 wurde den Dorfräten anlässlich des Berichts des Balwantrai-Mehta-Komitees in den Entwicklungsplänen für ländliche Gemeinschaften eine mögliche bedeutende Rolle – in erster Linie als eine für die Entwicklung zuständige Behörde – eingeräumt. Der Mehta-Bericht empfahl drei hierarchische Stufen – beginnend bei den Dorf-Panchayats über Zwischen-Panchayats bis zu Distrikt-Panchayats – mit Verbindungen zu den Distriktverwaltungen und den Staatsregierungen. Viele Staaten haben ihre eigenen Modelle gewählter Panchayati-Raj-Institutionen (PRIs) als Teil eines demokratischen Dezentralisationsprozesses gesetzlich verankert.

Manche Programme und Pläne der Staatsregierungen wurden zu deren Umsetzung an Panchayat-Räte übertragen. Allerdings konnten die Staaten die Übertragungen später wieder rückgängig machen und taten dies bisweilen auch. Die Leiter der einzelnen Ebenen der Panchayat-Räte hat-ten in der Praxis viel mehr Macht als die Räte selbst. Die Staatsregierungen und District Collectors hatten Überwachungsbefugnisse über die PRIs und konnten von den Panchayat gefasste Entschlüsse ablehnen oder die Panchayats sogar vom Amt absetzen. Den PRIs wurden durch verschiedene von der Legislative der Staaten erlassene Panchayat-Gesetze bestimmte Befugnisse erteilt, Ressourcen zu mobilisieren und Steuern zu erheben.

Das städtische Indien verfügt nicht über ein solch hierarchisches System gewählter Organisationen. Jedes Stadtgebiet hat entsprechend seiner Größe und Einwohnerzahl sowie gemäß weiterer Bestimmungen verschiedener staatlicher Gemeindegesetze einen eigenen gewählten Rat. Die Gemeinden sind auf keine Weise mit den PRIs verbunden. Die Staatsregierungen und District Collectors behalten die Aufsichtbefugnisse. Stadtgebiete haben zudem von den Staatsregierungen eingerichtete Stadtentwicklungsbehörden bzw. Stadtsanierungs-Trusts mit einem ernannten Vorsitzenden oder Direktorium, die Entwicklungsprojekte durchführen. Die Gemeindeorganisationen nehmen bestimmte "Gemeindeaufgaben" wahr wie Abwasserbeseitigung, Straßenreinigung und -beleuchtung, Bauverordnungen für Privatbauten, Parkverordnungen, Erfassung von Geburten und Todesfällen usw. Eine Vielzahl von Behörden der Bundesstaaten sowie von halbstaatlichen Behörden koordinieren die Aufgaben mit den Gemeinden. Die Anzahl der Behörden erhöht sich in Stadtgebieten, in denen eine oder mehrere Gemeindeorganisationen operieren.

Wo immer Staatsbeamte oder lokale und ländliche Organisationen beteiligt sind, koordiniert der District Collector die ländlichen und städtischen

Rakesh Hooja / George Mathew

Angelegenheiten. Die Staatsregierungen unterhalten separate Abteilungen für die Bereiche ländliche Entwicklung, Panchayati Raj, städtische lokale Selbstverwaltung und städtische Entwicklung. Die Unionsregierung hat entsprechende Ministerien, und auch die Unionsterritorien haben lokale Selbstver waltungsterritorien. Einige Staaten haben zudem regionale Entwicklungsräte geschaffen, die im Großen und Ganzen Erzeugnisse der Staatsregierung sind und keine Verbindung mit städtischen oder lokalen Körperschaften haben.

Mit der 73. und 74. Verfassungsänderung im Jahre 1993 wurde den PRIs und Gemeindeorganisationen rechtlicher Status verliehen. Alle fünf Jahre müssen Wahlen abgehalten werden. Die Staaten können die Wahl der lokalen Regierungen nicht aufschieben, indem sie stattdessen einen Verwalter einsetzen. Zur unabhängigen Durchführung der Wahlen der lokalen Regierungen müssen Wahlkommissionen auf Staatsebene eingerichtet werden. Außerdem ist zwingend vorgeschrieben, eine proportionelle Anzahl an Sitzen für die Mitglieder behördlich aufgelisteter Kasten (Scheduled Castes) und Volksstämme (Scheduled Tribes) zu reservieren. Auf allen Ebenen bleibt zudem ein Drittel der Sitze Frauen vorbehalten. Auf allen Ebenen muss ein Drittel der Gemeinden und Dorfräte jeweils von einer Frau geführt werden, wobei die reservierten und nicht reservierten Sitze sich mit jeder Wahl ändern. Die Staatsregierungen müssen zudem Finanzausschüsse einrichten, um Vorschläge zur Dezentralisierung der Finanzmittel zu erarbeiten.

Der Charakter der föderalen politischen Ordnung Indiens bleibt jedoch unverändert, da die Kommunalverwaltungen ausschließlich den Staaten unterliegen. Auch haben die Verfassungsänderungen die Haltung der Bevölkerung gegenüber den lokalen Körperschaften kaum verändert. Die Verfassungsänderungen legten fest, welche Aufgaben von den Staatsparlamenten auf die PRIs oder Gemeindeorganisationen übertragen werden können. Diese Übertragungen sind nur langsam und unvollständig oder zuweilen gar nicht erfolgt, vornehmlich da Politiker und Beamte auf Bundes- und Staatsebene oft den Eindruck haben, dass sie mit den gewählten Repräsentanten der Panchayats und Gemeinden konkurrieren, sind.

Die 74. Verfassungsänderung sah drei Typen städtischer Körperschaften vor: Nagar Panchayats für ländliche Gebiete, die sich allmählich in städtische Gebiete verwandeln; Gemeinderäte für kleine Stadtgebiete; und Gemeindeverbände für große Stadtgebiete. Im Gegensatz zu den PRIs sind diese Körperschaften nicht hierarchisch geordnet und es besteht keine formelle Beziehung zwischen ihnen.

Die Kommunalverwaltungen haben einen ausschließlich exekutiven Charakter und sind in Bezug auf Finanzmittel, Beamte und Aufgaben von den Staatsregierungen abhängig. Alle lokalen Selbstverwaltungsinstitutionen sind finanzschwach, allerdings verfügen einige Gemeinden über eine

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gesündere finanzielle Situation als ländliche Panchayats. Ländliche Regierungen sind in Hinsicht auf ihre Ressourcen ausschließlich von der Union und den Staatsregierungen abhängig. Die meisten der Ressourcen, die den lokalen Körperschaften bereitgestellt werden, sind mit Regierungsprogrammen und Richtlinien verknüpft.

Eines der größeren gegenwärtigen Probleme ist die Koordination zwischen den Regierungsebenen.

Die Verfassungsänderungen haben die Anzahl der Repräsentanten, die nun in die lokalen Körperschaften gewählt werden, bedeutend erhöht. Die Tatsache, dass eine bestimmte Anzahl Sitze unterprivilegierten Volksgruppen und Frauen vorbehalten sind, hat zu einer Vertiefung der Demokratie und einem größeren Machtgewinn des Volkes geführt. Drei Wahlrunden mit vorbehaltenen Sitzen hat den Frauen eine erhöhte Repräsentation in den lokalen Körperschaften ermöglicht und ihre Situation in ländlichen Gebieten allgemein verbessert. Die Union und die Staatsregierungen organisieren zudem regelmäßig Schulungen und Kapazitätsaufbau für die gewählten Repräsentanten, die oft des Lesens und Schreibens unkundig sind oder über wenig Schulbildung verfügen.

Die Dorfräte und Gemeinden Indiens haben lange als Instrumente für Entwicklungs- und ähnliche Programme der Union und Staatsregierungen gedient. Allmählich übernehmen sie ihre in der Verfassung vorgesehene Rolle als wirkliche Institutionen lokaler Regierungstätigkeit.