Der Prozess der wirtschaftlichen Liberalisierung – im Zuge der Globalisierung – hat in der Praxis des indischen Finanzföderalismus entscheidende Änderungen mit sich gebracht. Es gibt Forderungen nach einer Neustrukturierung, Rückentwicklung und Dezentralisierung der Machtverhältnisse, mit einem besonders nachhaltigen Ruf nach finanzieller Dezentralisierung. Der Prozess der Entregulierung, Investitionsrückstellung und der Privatisierung in den Bereichen Industrie und Handel sowie in den Währungs- und Finanzsektoren wirkt sich auf Strukturen, Behörden und Verfahren der Regierung aus.
Indien geht einer höheren „Föderalisierung“ entgegen, die sich besonders auf lokale Verantwortung und Regierungseffizienz konzentriert.
Im indischen Föderalismus litten die finanziellen Machtbefugnisse bisher unter Ungleichheit und weitgehender Zentralisierung. Diese Tatsache besteht, obwohl gemäß der Verfassung die zentralen, staatlichen und lokalen Regierungen eigene finanzielle Verantwortungsbereiche haben, deren Einkunftsquellen und Verbindlichkeiten klar abgesteckt sind.
Zentralisiert von Anbeginn
Indien hat von Anfang an ein zentralisiertes Planwirtschaftssystem angenommen, um in diesem Land mit seiner riesigen Größe und Bevölkerungsvielfalt sowie regionalem Wohlstandsgefälle Wachstum und wirtschaftliche Weiterentwicklung zu gewährleisten. Die Art und das Ausmaß der innerstaatlichen Unterschiede sowie die Rückständigkeit der physischen und personellen Ressourcen in einigen Bundesstaaten waren so gravierend, dass ein direktes Eingreifen durch den Staat als notwendig erachtet wurde.
Als Ergebnis dessen erhielten die Staaten bei der Verteilung finanzieller Ressourcen weniger Autonomie. Dadurch wurden die Bundesstaaten einerseits abhängiger von der Zentralregierung und andererseits verwundbarer gegenüber der staatlichen Interventionspolitik.
Der finanzielle Föderalismus funktioniert darüber hinaus in Indien in einer hochzentralisierten Form, da die Kongresspartei sowohl in der Zentralregierung als auch in den Bundesstaaten nach der Unabhängigkeit zwei Jahrzehnte lang mit klarer Mehrheit regierte. Die Zentralisierung
Federations
Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002
der finanziellen Macht war unter dem Mantel der Entwicklungsplanung gewachsen.
Finanztransfers vom Zentrum in die Bundesstaaten sind Etattransfers, die auf die Empfehlungen von zwei Zentralorganen hin vorgenommen werden – die Finanzkommission und die Planungskommission (siehe Kasten) sowie der Hauptwirtschaftsministerien der Zentralregierung. Darüber hinaus wird finanzielle Hilfe über alle indischen Finanzbehörden, Industriebanken und Wirtschaftsbanken verteilt. Die Einheitsregierung teilt sich die Steuern, die von ihr und den Bundesstaaten eingenommen werden. Einige der Steuern werden von der Staatenvereinigung erhoben und kassiert und zwischen den Bundesstaaten aufgeteilt.
Das Zentrum ist nicht verpflichtet, allen Empfehlungen der Finanzkommission Folge zu leisten. So befolgte die staatliche Regierung die neueste Empfehlung der Finanzkommission zur Finanzierung des Gesundheitswesens, des Bildungswesens und der Trinkwasserversorgung nicht. Als Grund wurde angegeben, dass der Hauptfokus der Wirtschaftsplanung der Regierung die industrielle Entwicklung und die Politik der Importsubstituierung ist.
Die Finanzkommission wird auch von Entscheidungen über die Gewähr von Hilfestipendien und Spezialzuwendungen ausgeschlossen. Da diese Stipendien unter den Entscheidungsbereich der Planungskommission fallen, und darüber kann letztere beim Geldtransfer vom Zentrum an die Bundesstaaten eine wirkungsvollere Rolle als die Finanzkommission übernehmen.
Die zentrale Regierung hat bisher den Entscheidungen der Planungskommission für die monetäre, finanzielle und wirtschaftliche Planung des Landes stets Vorrang gewährt. Zentrale Planungshilfen für die Bundesstaaten sind projektgebunden und dürfen von den Staaten nicht für andere Projekte verwendet werden. Diese Form der engen zentralen Kontrolle führt gelegentlich zu einer Verschwendung wertvoller Ressourcen, da Investitionen nach Plan und nicht nach eigentlichem Bedarf Verwendung finden.
Seit Jahren bereits fordern die Bundesstaaten eine größere Rolle der Finanzkommission im Gegensatz zur Planungskommission, da letztere als politisches Organ betrachtet wird.
Eine weitere Form des Finanztransfers ist das Finanzieren verschiedener Erfordernisse der Bundesstaaten, ohne dass die Finanzkommission oder die Planungskommission konsultiert werden. Diese Transfers sind für Bereiche des Bildungswesens, die Landwirtschaft, Infrastruktur, Reparatur des Straßennetzes, Löhnerhöhungen für Lehrer, Flüchtlingshilfe, Notstandshilfe und andere Kontingentbedürfnisse vorgesehen, die gelegentlich auftreten wie beispielsweise Polizei und Wohnungsbau. Die Bedingungen für diese willkürlichen Transfers sind liberaler als die unter den „Plantransfers“ vorgenommenen Zahlungen.
Starke Ungleichheit
Trotz alledem weisen alle Etattransfers, einschließlich von Krediten, zentralstaatlichen Investitionen in öffentliche Unternehmen innerhalb der Bundesstaaten sowie die Transfers außerhalb der Etats und Subventionen darauf hin, dass die Verteilung von Finanzmitteln hochgradig ungleich vonstatten geht. Die Finanzströme in die einzelnen Bundesstaaten haben zu Verzerrungen, Unstimmigkeiten und sogar zu Konflikten zwischen der Zentralregierung und den einzelnen Staaten geführt.
Darüber hinaus erwies sich das Wirken der wichtigen Behörden des Zentrums die die Fiskalenbeziehungen beinflusen – darunter der Nationale Entwicklungsrat, der Innerstaatliche Rat, Rajya Sabha und der Oberste Gerichtshof – als unwirksam. Es fehlte an einer regelmäßigen Koordinierung der Aktivitäten zwischen diesen Institutionen, die „föderale“ Probleme nicht effektiv lösen konnten.
Die hochgradig zentrale Kontrolle im Namen von Gleichheit, Effizienz und wirtschaftlicher Planung hat Indien keine gleichmäßige Entwicklung beschert. Die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen setzen sich selbst in der reformierten und liberalen Wirtschaft fort. Ein Grund dafür ist, dass das finanzielle Verteilungsmuster im öffentlichen Bereich die Unterschieden zwischen rohstoffreichen und die nordöstlichen Bundesstaaten ignoriert.
Öffentliche Investitionen der Zentralregierung haben sich auf Gebiete mit Rohstoffen und vorhandenen Infrastrukturen konzentriert. Die Zentralregierung hatte kein Interesse daran, Bundesstaaten mit einer unterentwickelten Infrastruktur voranzubringen. Mehr als 50 Jahre nach der Unabhängigkeit fehlt einer größeren Anzahl von Staaten die Entwicklung der physischen und personellen Ressourcen – ein Trend, der sich selbst in der reformierten Ökonomie fortsetzt. In der Praxis fließen direkte Auslandsinvestitionen und andere Investitionsströme nur in entwickelte Gebiete. Die industriell entwickelten Bundesstaaten wie Tamil Nadu und Maharashtra ziehen auch weiterhin den Löwenanteil der Gesamtinvestitionen an. Der Anteil des Staates Maharashtra allein beträgt soviel wie die summierten Anteile aller relativ armen Staaten wie Assam, Bihar, Madhya Pradesh, Orissa, Rajasthan und Utter Pradesh.
Die verarmten Staaten wie Bihar und Uttar Pradesh haben hohe Bevölkerungszahlen, erhalten jedoch nur geringe Investitionsvorschläge. Bankkredit-Operationen ziehen ebenfalls die Staaten mit hohem Einkommen vor. Die von allen indischen Geldinstituten mobilisierten Ressourcen fließen in die relativ entwickelten Bundesstaaten.
Liberalisierung und ökonomische „Rückentwicklung“
Die Globalisierung hat einen Trend zur Dezentralisierung und Rückentwicklung von Machtgefügen und Ressourcen geführt. Das sich ändernde politische und wirtschaftliche System hat dazu geführt, dass sich die Bundesstaaten gemeinsam gegen die dominierende Finanzposition der Zentralregierung wehren. Die Zentralregierung hat sich als unfähig erwiesen, ihre Finanzen ohne die Kooperation der Bundesstaaten in Ordnung zu bringen. Die Liberalisierung der Wirtschaft führte dazu, dass sich die Zentralregierung zurückzog.
In den Geldtransfers vom Zentrum in die Staaten ist ein Rückgang zu beobachten. Etatunterstützungen durch die Zentralregierung für den Zentralplan wurden ebenfalls gekürzt – mit ernsthaften Folgen für die Budgets der Bundesstaaten. Davon sind besonders die wirtschaftlich schwächsten Staaten betroffen.
Die Zentralregierung hat sich auch als Förderer von sozial wünschenswerten Produktionsaktivitäten zurückgezogen, indem sie finanzielle Anreize zurückhält. Darüber hinaus erfuhr ihre Rolle als Regulierer, der Regeln und Gesetze vorschreibt, mit denen bestimmte makro-ökonomische oder soziale Zielstellungen erreicht werden sollten, eine Reduzierung. Die schwindenden Möglichkeiten der Zentralregierung, vorhandene Wirtschafts- und Wohlstandsgefälle auszugleichen, wird die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten in den kommenden Jahren noch vergrößern.
In dieser Periode nach der Liberalisierung und den Wirtschaftsreformen ist ein Abnehmen der Armut in den Städten zu beobachten, während sich die Armut auf dem Lande nach wie vor behauptet. Die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten haben sich nicht nur vergrößert, sondern sie zeigen in vielerlei Hinsicht auch qualitative Verschlechterungen. In der Post-Reformperiode konnten die ärmeren Staaten wie Rajasthan, Uttar Pradesh, Orissa keinen Rückgang der Armut erreichen, während reichere Staaten wie Andhra Pradesh, Gujrat, Karnatka, Maharashtra, Tamil Nadu und Punjab einen Rückgang der Armut verzeichnen konnten. Der Trend zur Ausweitung der Wohlstandsunterschiede zwischen den Staaten wird die Beziehungen mit der Zentralregierung sehr wahrscheinlich komplexer gestalten und stellt eine ernsthafte Bedrohung der nationalen Einheit und Integrität dar.
Viele Arten von Ungleichheiten
Verursacht durch das sich ändernde Wirtschaftsklima ersetzt der Wettbewerb um Einflussbereiche zwischen den Bundesstaaten nun die Beziehungen der Regierungen. Die industriell entwickelten Staaten versuchen, ihre Gesetze umzuschreiben, um Steuergesetze zu verwässern und damit finanziellen Zugeständnissen und Auslandsinvestitionen einen höheren Anreiz zu bieten. Diese Staaten verfügen über Kapazitäten, ihre Abhängigkeit von der Zentralregierung zu reduzieren und eigene Einkommensquellen zu schaffen. Sie wünschen sich mehr Autonomie in finanziellen und politischen Angelegenheiten.
Selbst in den wirtschaftlich reichen Staaten gibt es Regionen, die außergewöhnlich arm sind und auf die Hilfe der Zentralregierung angewiesen sind. Wie diese Entwicklungshilfe in den Bundesstaaten verteilt wird und wie die Staaten auf solche Transfers reagieren, war in den vergangenen Jahren oft Gegenstand von Kontroversen.
In Übereinstimmung mit einem dezentralisierteren Finanzföderalismus wurden zahlreiche Machtbefugnisse an die lokalen Regierungen übertragen. Die elfte Finanzkommission legte den Aggregatanteil der Bundesstaaten von den Verteilungsressourcen der Zentralregierung auf 29,5% fest. Diese Finanztransfers bringen den bevölkerungsreichen und wirtschaftlich rückständigen Bundesstaaten größere Vorteile. Zum ersten Mal verabschiedete die Kommission Empfehlungen zum Bereitstellen von Finanztransfers an lokale Organe. Sie empfahl den Transfer von jeweils 16 Milliarden Rs. und 4 Milliarden Rs. für Panchayats (ländliche, lokale Verwaltungen) und Städte. Die Verfassungsänderungen Nummer 73 und 74 fordern, dass jeder Bundesstaat eine staatliche Finanzkommission bildet, welche die Finanzierung einer örtlichen Selbstverwaltung nominieren und empfehlen soll.
Kooperativer Föderalismus wird als das beste Instrument angesehen, um die komplizierte Beschaffenheit der finanziellen föderativen Beziehungen in Indien zu meistern. Er würde der Nation zu Wohlstand verhelfen, da sich die verschiedenen Regierungsebenen die nationalen Ressourcen und Märkte teilen. Kooperativer Föderalismus könnte dazu beitragen, die Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den Bundesstaaten sowie zwischen den Bundesstaaten harmonischer zu gestalten, während gleichzeitig gesunder Wettbewerb angeregt wird. Eine neue föderative Vereinbarung zur Erweiterung der Autonomie der Bundesstaaten und der Aktivierung von bodenständigen zwischenstaatlichen Organen würde Indien einer kooperativen und konstruktiven föderalen Staatsform näher bringen.
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