MARA T SALIKOV
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kämpft Russland bemüht darum, die strikte politische und wirtschaftliche Kontrolle der kommunistischen Ära durch die Errichtung eines demokratischen politischen Systems, einer Marktwirtschaft und einer wirklich föderalen Struktur zu ersetzen. Russland ist nicht nur das größte Land der Erde, es hat auch eines der komplexesten föderalen Systeme. Die Russische Föderation besteht aus 89 Teileinheiten, die typischerweise als Föderationssubjekte bezeichnet werden und in sechs Kategorien unterteilt sind: Republiken, Territorien, Regionen, autonome Bezirke, autonome Regionen und Städte föderalen Ranges. Die Russische Föderation verbindet ethnischen und territorialen Föderalismus. Die gegenwärtig gültige Verfassung der Russischen Föderation stammt aus dem Jahr 1993 und die föderale Struktur bleibt flexibel.
Formal wurde der Föderalismus in Russland erstmals mit der föderalen Verfassung von 1918 eingeführt. Die signifikanteste Entwicklung der Sowjetära bestand in der Eingliederung der Russischen Sozialistischen Föderalistischen Sowjetrepublik (RSFSR) in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), die offiziell 1922 ausgerufen wurde. Trotz der vorgeblichen Verpflichtung auf den "sozialistischen Föderalismus" war die UdSSR in hohem Maße ein Einheitsstaat. Die UdSSR basierte auf einem tief in der marxistisch-leninistischen Ideologie verwurzelten politischen Einparteiensystem mit einem Schwerpunkt auf "demokratischem Zentralismus", einer zentralen Planwirtschaft und einer mächtigen staatlichen Repressionsmaschinerie. Was für die UdSSR galt, galt in gleichem Maße auch für die RSFSR: Föderalismus war mehr Vorwand als Realität.
Nach der Auflösung der UdSSR in den frühen 90er Jahren wurde die föderale Verfassung dahingehend geändert, dass der Ausdruck "autonom" aus dem offiziellen Namen der Republiken gestrichen wurde, der Name UdSSR durch "Russische Föderation" ersetzt wurde und alle Territorien, Regionen und Städte föderalen Ranges als Mitglieder der neuen Föderation anerkannt wurden. Gemäß dem dreiteiligen Föderationsvertrag von 1992, den die Bundesbehörde und alle Einheiten der Russischen Föderation mit Ausnahme Tschetscheniens und Tatarstans unterzeich
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neten, erhielten diese neuen Mitglieder jedoch nicht die gleichen Rechte wie die Republiken. Erst mit der Annahme der Verfassung von 1993, Russlands gegenwärtiger Verfassung, wurden die gleichen Rechte für alle Föderationssubjekte verfassungsmäßig verankert.
Alle Teileinheiten der Föderation sind als sich selbst regierende Einheiten anerkannt – im Gegensatz zur Sowjetära, als lediglich ethnisch begründete Einheiten als "Föderationssubjekte" anerkannt waren. Allen Teileinheiten steht es jetzt frei, ihre eigene Verfassung oder eigene Statuten zu verabschieden, ohne wie in der Sowjetära um die Zustimmung föderaler Institutionen ersuchen zu müssen. Gemäß der Vorrangklausel der Föderationsverfassung wird jedoch den Gesetzen der Föderation Vorrang vor den Verfassungen der unteren Ebene gewährt.
Darüber hinaus wird die territoriale Integrität der Föderationssubjekte garantiert. Ihre Grenzen können nicht ohne ihre eigene und die Zustimmung des Föderationsrates (eine der beiden Kammern des Parlaments, der Föderalen Versammlung) geändert werden. Jede föderale Einheit ist im Föderationsrat mit zwei Repräsentanten vertreten: einem Mitglied der Legislative und einem der Exekutive. Wenn die Bundesregierung die Befugnisse einer föderalen Einheit anzweifelt, kann diese beim Verfassungsgericht Schutz suchen.
Schließlich üben die Teileinheiten sowohl ausschließliche als auch konkurrierende Kompetenzen aus. Diese erstrecken sich sogar bis hin zu den Außenbeziehungen. Die föderalen Einheiten können internationalen Wirtschaftsabkommen mit Teileinheiten anderer Länder und, mit
Zustimmung der Föderation, sogar mit anderen
Nationen beitreten.
Russlands föderales System entwickelte sich aus einem Einheitsstaat heraus, und es gibt sowohl in den Gesetzen als auch im öffentlichen Bewusstsein noch immer Überbleibsel dieser einheitlichen Tradition. Die historische Entwicklung Russlands verlief vom überzentralisierten Staat des Russischen Reichs und der Sowjetunion/RSFSR hin zu einer dezentralisierten Föderation, wenngleich die Föderalismuspolitik von Präsident Putin Anzeichen einer neuen Zentralisierung aufweist. In dem Jahrzehnt nach dem Inkraft
treten der Föderationsverfassung hat Russland bemerkenswerte Fortschritte bei der Festigung der föderalen Demokratie gemacht, doch bleiben wichtige Herausforderungen bestehen.
Ein anhaltendes Problem liegt in der Struktur der Russischen Föderation begründet, da die Abgrenzung der gegenwärtigen "Föderationssubjekte" erst vor kurzem mit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1993 erfolgte. Die Kontroverse darüber, ob der russische Föderalismus
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symmetrisch oder asymmetrisch sein soll, ob Föderationssubjekte gleiche Macht und gleiche Rechte haben sollen oder ob ethnisch begründete Republiken einen anderen Status genießen sollen, dauert an. Angesichts der Tatsache, dass viele unterentwickelte Einheiten der Föderation weitgehend von Subventionen der Föderation abhängen, wird zudem in einigen politischen Zirkeln Druck gemacht, die föderalen Teileinheiten zu vergrößern und ihre Zahl zu verringern.
Die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung zwischen der Föderationsregierung und den föderalen Einheiten gibt insbesondere angesichts der Umsetzung konkurrierender Kompetenzen ebenfalls Anlass zur Sorge. Theoretisch sollte die Ausübung dieser Kompetenzen so erfolgen, dass die Föderationsregierung die Rahmengesetze vorgibt und die föderalen Einheiten in Übereinstimmung mit den Bedingungen vor Ort detailliertere Regeln ausarbeiten. In der Praxis jedoch sind aus den allgemeinen Richtlinien der Bundesgesetze häufig sehr detaillierte Gesetzesvorschriften geworden, die den regionalen Gesetzgebern keine eigene Rolle lassen.
Der Versuch der Zentralregierung, die Beziehungen zwischen der Föderation und den Regionen zu harmonisieren (die vertikalen Beziehungen zu stärken), könnte zu einem hochgradig zentralisierten Föderalismus führen. In einigen Teilen der Föderation – beispielsweise Baschkortistan, Sakha, Sverdlowsk und Tatarstan – bleibt jedoch ein fest verwurzelter Widerstand gegen eine solche Zentralisierung erhalten.
Die größte Herausforderung, der sich das russische föderale System gegenübersieht, ist die Tschetschenien-Krise. Dieser größere bewaffnete Konflikt wurde dadurch ausgelöst, dass sich die Tschetschenische Republik für unabhängig erklärte, obwohl die Verfassung der Föderation eine solche Abspaltung nicht vorsieht. Diese Unabhängigkeitserklärung hat von 1994 bis 1996 und von 1999 bis 2000 zu zwei Kriegen (Interventionen der Föderation) geführt. Noch heute setzen separatistisch orientierte Einheiten ihren Kampf gegen Föderationskräfte fort und verüben terroristische Anschläge. Trotz dieser Feindseligkeiten haben die Wähler im Frühjahr 2003 in einem Referendum eine republikanische Verfassung und Gesetze für die Wahl des Parlaments und des Tschetschenischen Präsidenten angenommen. Die nächsten Parlamentswahlen sind für das Frühjahr 2005 geplant, und Präsident Putin hat seinem Wunsch Ausdruck verliehen, mit den neu gewählten Vertretern der Tschetschenischen Republik einen Vertrag zu unterzeichnen, um die Gewaltenteilung zwischen der Föderationsregierung und der Tschetschenischen Republik zu regeln.
Trotz dieser Probleme ist die Föderationsverfassung ihren Vorgängerinnen weit überlegen, und das Verfassungsgericht sollte in der Lage sein, mit einer Kombination aus Verfassungsänderungen und –interpretationen die verbleibenden Unzulänglichkeiten zu mildern.