HenningVoscherau

Der deutsche Föderalismus

12. Oktober 1990

I.

»Die Diskussion des Deutschen Bundestages bewies, daß der Föderalismus in Deutschland erneut in die Verteidigung seines Lebensrechtes gedrängt ist«, sagte der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, und zwar nicht etwa Franz Josef Strauß 1988, sondern Dr. Hans Ehard bereits 1954, und das war früh in der Geschichte der Republik.

Zweites Zitat: »Wir erschienen, wenn wir von Helmut Schmidt gebeten wurden, als die Duodezfürsten, die gelegentlich mit dem schlechten Gewissen lebten, den Weltökonomen mehr am Regieren zu hindern, als ihn hierin zu unterstützen. Das hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich geändert. Wieder wie zuvor bei Brandt und Kiesfinger ist ein früherer Ministerpräsident Bundeskanzler. Der Eindruck zu stören ist gewichen, man wird sogar im Rahmen der Konferenz der Regierungschefs zum Essen eingeladen« (Bernhard Vogel am 8. Mai 1990).

Der Föderalismus ein Substrat der Einladung zum Bankett - aus Sicht eines ehemaligen Ministerpräsidenten -, soweit sind wir gekommen.

Beide Zitate zeigen aber: Der Föderalismus in Deutschland hat ofenbar eine besondere Bedeutung. Und wenn man sich in Europa umschaut, sieht man auch, daß das so sein muß. Es gibt den Föderalismus nur in Deutschland, in der Schweiz, jetzt auch in Flandern und der Wallonie. Es muß was dran sein, vor dem gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund der eben erwähnten Staaten, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Auch die DDR hat sich 53 Jahre nach der Auflösung der Länder 1937, als sei dies geradezu ein Naturgesetz, besonnen auf Länder als die eigentliche, heimatliche, Identifikation schaffende staatliche Struktur, die übrig bleibt, wenn das, was darüber ist, auseinanderfällt.

So war es übrigens schon nach zehn Jahren napoleonischer Besetzung. Was 1815 plötzlich wieder da war, waren die deutschen Länder. Und so war es auch nach dreißigjährigen kriegerischen Verwicklungen, die ein handlungsfähiges Reich jedenfalls in der Realität aufgelöst hatten, 1648. Was der Westfälische Frieden übrig ließ oder neu installierte, waren die Länder, war nicht die nationalstaatliche Ebene. Diese historischen Bezüge zeigen aus meiner Sicht: Mit dem Föderalismus und mit der regionalstaatlichen Gliederung muß es in dem deutschen Kultur- und Geschichtsraum etwas Besonderes auf sich haben.

Daß das so ist, zeigt sich auch, wenn man die verschiedenen Präambeln früherer Verfassungen betrachtet. Etwa die der Weimarer Reichsverfassung: »Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen«, heißt es da. So einig kann es nicht gewesen sein, aber die Stämme sind der Punkt. Nach tausend Jahren deutscher Geschichte, Stammesgeschichte: »Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen«. Welch ein Nachhall, welch eine geistige, emotionale, also politische Macht!

II.

Der Föderalismus ist nicht Selbstzweck. Jedenfalls sollte er nicht Selbstzweck seiner Amtsträger werden. Im modernen Staat ist er Ausdruck einer funktionalen Gewaltenteilung, also einer etwas anders verstandenen Gewaltenteilung als derjenigen zwischen Legislative, Exekutive, Judikative. Er ist Ausdruck einer funktionalen Gewaltenteilung zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten. Außerdem gibt er der Identifikation der Bürger mit ihrer Heimat staatliche Gestalt, und zwar zwischen den Polen Einheit und Vielfalt, Nation und Region. Das Hemd ist einem näher als der Rock. Die Heimat ist nah, der Kaiser ist weit. Vielleicht auch zwischen den Polen Eigennutz und Gemeinnutz. Aber auch zwischen »check« und »balance«. Und es ist vielleicht mehr als ein Zufall, daß die Gleichschaltung der Länder 1937 und ihre Auflösung 1952 von zwei diktatoralen, zentralstaatlichen, anmaßenden Systemen dekrediert wurden.

Der Föderalismus ist einem stetenWandel des Selbstverständnisses und der Herausforderung unterworfen. Er ist nicht statisch, nicht institutionell, sondern er zeichnet sich aus durch spannungsreiche Dynamik. Er steht stets auf dem Prüfstand. Gemessen wird er daran, ob seine Institutionen die Interessen der Bürger effizient zu sichern vermögen und ob die Handlungsfähigkeit, die die Bürger verlangen, gegeben ist.

Geschieht das nicht oder ist das nicht gesichert, dann sind Gewichtsverlagerungen zwischen den beiden Polen zwangsläufig. Das kann in geschichtlichen Perioden hinund zurückpendeln. So ist es seit mehr als tausend Jahren, seit, sagen wir, Heinrich I.

919.

Es ist, glaube ich, nicht falsch zu sagen, daß die Entstehungsgeschichte des deutschen Föderalismus letztlich zurückgeführt werden kann auf den Beginn des 10. Jahrhunderts, auf die Zeit nach dem Zerfall des Karolingerreiches. Das Spannungsverhältnis zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften in Deutschland ist seit fast genau einem Jahrtausend vor Ausrufung der Weimarer Republik zu beobachten. Insofern ist der Föderalismus in Deutschland zwischen den unitarischen und den föderalen Polen seit alters her tief verwurzelt.

Entstanden ist daraus die Kraft der Idee der Einheit als ein politisches Ziel, das bleibt, auch wenn sie in der Realität weit entfernt scheint - wie vielfach in diesem Jahrtausend und auch während der letzten vierzig Jahre.

III.

Diese Entstehungsgeschichte sollte man vielleicht kurz darstellen, um begreiflich zu machen, wie die Wurzeln des Föderalismus in über tausend Jahren kontinuierlich gewachsen sind.

Der Beginn des deutschen Staates geht zurück auf die germanisch-fränkischen Zeiten des Karolingerreiches, die ihrerseits gekennzeichnet waren durch die Polarität von König und Adel.

Im 9. Jahrhundert hatten die Franken die anderen deutschen Stämme unterworfen und sich nachgeordnet: die Alemannen, die Bayern, die Sachsen - deren Unterwerfung war 804 abgeschlossen -, danach die Friesen und auch das thüringische Stammesherzogtum.

Auch in der Zeit nach 919, dem eigentlichen Beginn einer deutschen Geschichte, im

10. bis 12. Jahrhundert, gab es noch die Polarität zwischen dem Königtum und verschiedenen mächtigen Stammesherzogtümern, eine Polarität also nicht zwischen territorialen, sondern zwischen personalen Einheiten. Darin zeigten sich Reste der Wanderungszeit, bei der die Zusammengehörigkeit sich auf Personen richtete und nicht auf Territorien.

Seit Heinrich I. haben wir es zu tun mit fünf deutschen Stämmen: den Sachsen, den Bayern, den Schwaben, den Lothringern und den Franken. Die Geschichte dieser Stämme hat sich nach dem Ende der Hochzeit des Reiches im 10. bis 12. Jahrhundert allerdings zunehmend verwandelt in eine Geschichte auseinanderstrebender, dennoch aneinanderhängender Territorien. Der ursprüngliche Zusammenhang zwisehen Stammesherzogtümern und territorialen Herzogtümern wurde durch Teilungen zunehmend aufgelöst.

Dieser Prozeß war weitgehend abgeschlossen mit der Niederlage Heinrichs des Löwen gegen die Staufer und seiner Absetzung als Herzog von Sachsen und Bayern, Stammesherzogtümern, die sich deckten mit territorialen Herzogtümern. Die territorialen Fürstentümer und die Polarität zwischen der zentripetalen Kraft des König- und Kaisertums einerseits und der zentrifugalen der territorialen Fürstentümer andererseits haben siebeneinhalb Jahrhunderte deutscher Geschichte bestimmt - bis 1806.

1180 bildete sich der Reichsfürstenstand heraus; es war ein erster großer Schlag gegen die Stärke des Reiches und des Kaisers. Dieser Reichsfürstenstand umschloß neunzig geistliche und sechzehn weltliche Fürsten. Die große Zahl der Geistlichen war eine Folge der Politik Ottos des Großen, der seine Reichsmacht auf die Geistlichkeit bis hin zu Äbten und Äbtissinnen stützte.

1512 hat Maximilian I. versucht, zehn Reichskreise einzuteilen; dabei hat er dem Reich einerseits und den Reichskreisen andererseits Kompetenzen zugeordnet - eine funktionale Teilung. Der Westfälische Frieden führte 1648 zu fast 1300 landeshoheitlichen Herrschaften in Deutschland. Man kann sagen, daß mit den verfassungspolitischen Entscheidungen des Westfälischen Friedens Kaiser und Reich als Zentralinstanzen endgültig den kürzeren gezogen hatten.

Zwischen 1648 und 1806 achteten die Territorialstaaten nur noch auf sich selbst, nicht mehr auf das Reich. Sie bauten ihre Hausmacht auf ohne Rücksicht auf das Reich. Österreich als Hausmacht des Kaisers, der kraft seiner Reichsfunktion als Machtfaktor nichts wert war, sondern nur kraft seiner Hausmacht reale Macht innehatte, Österreich gehörte nur zum Teil zum Reich. Große Teile seines Territoriums gehörten nicht zum Heiligen Römischen Reich, dasselbe galt für Preußen. Beide waren in einer Doppelstellung, teils Reichsterritorium, teils außerhalb.

Es gibt eine zweite Doppelstellung, die das Heilige Römische Reich kennzeichnete. Der König der Niederlande war über seine Fürstenfunktion zu Luxemburg Reichsfürst; auch noch Fürst des Deutschen Bundes nach 1806. Der König von Großbritannien war in seiner Funktion als hannoverscher Reichsfürst Teil des Heiligen Römischen Reiches und auch noch nach 1806 Teil des Deutschen Bundes, ebenso der König von Dänemark als Herzog von Holstein. So daß an drei verschiedenen Ecken nicht nur Reichsländer nach draußen Brücken bauten, sondern auch Nachbarn innerhalb des Reiches eine territoriale Teilherrschaft ausübten.

1806, als der Römisch-deutsche Kaiser die Krone niederlegte, bestand das Reich aus 294 Reichsständen. 1815 wurde der Deutsche Bund in zwei Schritten durch 39, dann 41 deutsche Staaten gegründet. 1866 bestand er noch aus 34 Staaten. 1871 unter der hegemonialen Macht Preußens und ohne Österreich gründeten 25 Staaten das Zweite Reich. 1919 waren es noch 18. Heute,1990, sind es 16. Der Wiener Kongreß von 1815 hatte Grenzen gezogen, die in der deutschen politischen Landkarte bis 1945 wiedererkennbar sind.

1871, im Zweiten Reich, deckte Preußen 65 Prozent des Territoriums ab und schloß 62 Prozent der Bevölkerung dieses Territoriums ein. Beim Wiener Kongreß hatten Österreich und Preußen gemeinsam nur 57 Prozent der Bevölkerung umfaßt, während 23 der 41 deutschen Staaten des Wiener Kongresses, der Gründung des Deutschen Bundes, weniger als hunderttausend Bürger zählten. Der kleinste, das Fürstenturn Liechtenstein, bezog sich 1818 auf fünftausend Staatsbürger.

Diese Geschichte mehrhundertjähriger Schwächung der zentralen staatlichen Instanzen und der Herausbildung von Territorialherrschaften bildet den Hintergrund des heutigen Föderalismus. Die Entwicklung hierzulande kann man am besten verstehen, wenn man einen Blick wirft auf das westfränkisch-französische Reich um etwa 950, zur Zeit Heinrichs I. und Ottos I. Bei einem Vergleich mit dem damals noch von Karolingern beherrschten westfränkisch-französischen Reich stellt man fest, daß bis zum 10. Jahrhundert auch nach dem Ende der Karolingerherrschaft im westfränkischen Reich -das Königtum bis zur Ohnmacht zerniert wurde, wie bei uns auch.

Dafür, daß es seither in Frankreich ganz anders, nämlich zu der heutigen starken zentralistischen Gestalt Frankreichs gekommen ist, gibt es aus meiner Sicht drei Gründe.

Erstens: Die Franzosen haben langandauernde erbliche Dynastien herausgebildet. Die direkten Kapetinger herrschten von 987 bis 1328, und seither schlossen sich Nebenlinien an: Valois, Orleans, Angouleme und dann Bourbon bis 1789 (und später noch einmal). Diese ungebrochene, gesicherte, nie in Zweifel gezogene, Jahrhunderte überdauernde Kontinuität hat eine die Generationen übergreifende Stärkung der Zentralinstanzen bewirkt. Ganz anders das labile Wahlkönigtum in Deutschland.

In Deutschland gab es allein in der Zeit der französischen Kapetinger bis 1328 mehrfach Kaiserwahlen, die eine Schwächung der zentralen Macht und ein Wiedererstarken der regionalen Machtstrukturen bedeuteten. Der Höhepunkt dieser Entwicklung - oder der Tiefpunkt, wie man will - war das sogenannte Interregnum. Damals wurden nacheinander drei »Ausländer« zum Kaiser gewählt; eifersüchtige Kurfürsten wählten den Kandidaten gerade wegen seiner Schwäche als Ausländer. Später ist übrigens die polnische Schwäche, die zu vier polnischen Teilungen geführt hat, genauso begründet worden. An der Wahl Augusts des Starken gegen einen Bourbonen lassen sich die Motive des wahlberechtigten polnischen Adels vergleichbar nachvollziehen.

Zweiter Grund: Anders als in den deutschen Landen gab es in dem westfränkischfranzösischen Reich keine klare Stammesgrundlage. Wir waren von Anfang an in die deutschen Stämme zerteilt. Das kennt man in Frankreich nicht.

Dann gibt es einen dritten Grund, den ich für den eigentlich bedeutsamsten halte, nämlich die geographische Lage und die Zahl der Nachbarn. Frankreich ist umgeben vom Mittelmeer, von den Pyrenäen und vom Kanal. Im Osten haben die Franzosen im wesentlichen - cum grano salis - einen Nachbarn, den deutschen Nachbarn.

Wir hingegen haben viele Nachbarn: Dänen, Polen, Tschechen, Ungarn (wenn ich Österreich im geschichtlichen Sinne, ohne politisch mißverstanden zu werden, mitrechnen darf), Slowenen, Italiener, Rätoromanen, Franzosen, Wallonen. Viele Nachbarn und auch viel Integration: deutsche Sonderidentitäten durch unterschiedliche Nachbarn mit unterschiedlichen Nachbarkulturen. Mein Eindruck ist, daß durch diese große Zahl von verschiedenartigen Nachbarn sich regional verschiedene Integrationen, kulturelle Sonderidentifikationen entwickelt haben. Kulturelle, sprachliche, nachbarschaftliche Sonderbefindlichkeiten haben zentrifugale Kräfte entwickelt.

Insofern war das Reich gewissermaßen ein europäisches Vorbild seit dem Mittelalter und, anders als Frankreich, über Jahrhunderte mehr Idee als Realität. Realität war eine gemischtnationale, multiethnische, kulturelle Nachbarschaft, eine Art Symbiose verschiedener Volksteile. Diese haben das deutsche Volk nach meiner Einschätzung geprägt. Das ist bis heute wach:

- Wenn man hört, daß Herr Streibl ein Gutachten in Auftrag gegeben haben soll, wie man mit Bayern aus dem deutschen Vaterland herauskönne;

-wenn man beobachtet, wie intensiv die Bayern die Alpenregion mit Österreich und anderen zusammen betreiben; - wenn man hört, daß Lothar Späth bei der Debatte über die deutsche Hauptstadt einwirft, seine Lieblingshauptstadt für Baden-Württemberg sei Bern, denn er würde der größte schweizerische Kanton werden;

- wenn man hört, daß Oskar Lafontaine eine einheitliche Region Saarland, Lothringen, Luxemburg vor Augen hat;

-wenn man gelesen hat, daß Björn Engholm vor wenigen Wochen in Oslo eine Art nordischen Rat mitgegründet hat; - und wenn man schließlich weiß, daß der Hamburger Bürgermeister dem Traum von der Europäischen Souveränen Kaufmannsrepublik Hamburg anhängt;

dann zeigt sich, daß das regionale Selbstbewußtsein bis heute emotional wachgeblieben ist. Wenngleich partikularistische Tendenzen heute nicht mehr politische Realität sind, hallen sie nach in der emotionalen Befindlichkeit. Ich halte die spontan ablehnende Haltung vieler Ministerpräsidenten gegenüber Berlin als Regierungssitz für einen Ausfluß des über Jahrhunderte gewachsenen regionalen Selbstbewußtseins, des Polyzentrismus, verbunden mit der Befürchtung, es könne eine neue zentrale Übermacht geben, wenn die Regierung nach Berlin geht.

Der Zentralismus des deutschen Reiches ist stets negativ bewertet worden, der französische Einheitsstaat positiv. Diese Bewertung ist in der Phase des Nationalstaats entstanden. Sie ist Ausdruck historisch empfundener nationaler Defizite in Deutschland.

Eine zwingende Bewertung für uns heute ist das nicht. In einem sich einigenden Europa kann unser Föderalismus vielmehr das Vorbild für ein gutnachbarliches Zusammenleben in Europa sein.

Was die geschriebenen Verfassungen des Föderalismus seit 1806 angeht, so lebte die Idee des Reiches nach seiner Auflösung durch Franz II. 1806 fort. Die Idee des Reiches, die Idee der Zusammengehörigkeit, im 19. Jahrhundert die Idee der Nation, führte 1815 sofort zu einer Neugründung: dem Deutschen Bund. Artikel 6 des Pariser Friedens spricht davon, daß die deutschen Staaten unabhängig seien und durch ein föderales Band verbunden werden sollen.

Schon am 8. Juni 1815 wird der Deutsche Bund als eine Konföderation gegründet. Die zunächst 39, dann 41 Staaten des deutschen Bundes - darunter auch Hamburg waren souveräne Staaten, durch eine lockere Konföderation weniger intensiv als durch die Idee des Reiches, die darüber hinauswies, verbunden.

34 Jahre später, am 28. März 1849, hat die Paulskirchen-Verfassung einen Bundesstaat statuiert, dessen Macht zu einem großen Teil beim Reich lag: Auswärtiges, Krieg und Frieden, Wehrverfasusng, Handel, Verkehr, Zölle, Währung, innerer Reichsfrieden sollten beim Reich liegen, alles andere bei den Ländern. Allerdings ist diese Verfassung nicht Realität geworden.

Der Norddeutsche Bund vom 1. Juli 1867 mit seiner. Verfassung war gekennzeichnet durch die preußische Hegemonie, wurde wirtschaftlich hinterher durch den Zollverein komplettiert. Insofern ist es ein atypischer 'Bund gewesen.

Interessant ist hingegen der Blick auf den 1. Januar 1871 und die Verfassung des Bismarck-Reiches. Damals schlossen die Fürsten, so hieß es, einen »Ewigen Bund«. Trotzdem war das keine Konföderation, sondern ein Bundesstaat. Das Reich erhielt die Kompetenzkompetenz zugewiesen. Die Länder hatten gleichwohl deutlich mehr Rechte als heute und sehr viel mehr Rechte als in der Weimarer Republik.

Trotz dieser vergleichsweise länderfreundlichen bundesstaatlichen Bismarck´schen Verfassung war von 1871 bis 1914 in der Verfassungswirklichkeit und vor allen Dingen durch die Entwicklung der Wirtschaft ein dauernder Bedeutungszuwachs des Zentralstaats zu verzeichnen. Seine Macht nahm zu, die der Länder nahm in der Realität ab.

Die Weimarer Reichsverfassung war eine deutlich zentralistischere Verfassung. Das lag auch daran, daß sowohl die Demokraten als auch die Sozialdemokraten Anhänger des Einheitsstaates waren. Die Weimarer Reichsverfassung hat die Länder sehr viel schlechter behandelt, als das in der Bismarckschen Verfassung der Fall gewesen war. Die Staatsgewalt lag in erster Linie beim Reich. Reichsgesetze gingen den Landesgesetzen vor. Außerdem hieß es: Nimmt das Reich Abgaben und sonstige Einnahmen in Anspruch, die bisher den Ländern zustanden (das stand ihm also frei), so hat es auf die Erhaltung der Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Ob es das getan hat, will ich nicht beurteilen. Der Bund heutzutage tut es jedenfalls nur begrenzt.

Unser Grundgesetz, durch den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und den Parlamentarischen Rat vorstrukturiert und durch Rahmenbedingungen der Alliierten vorbestimmt, hat versucht, eine Balance herzustellen zwischen Bund und Ländern. Es ist ausgearbeitet worden unter der Ägide föderalistisch denkender Politiker. In dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee war je ein Vertreter der Länder vertreten, der Parlamentarische Rat war von den Landtagen gewählt. Neulich hat mir Ernst Schönfelder ein Foto seines Vaters. zugeschickt, wie er das Grundgesetz unterzeichnet. Adolf Schönfelder ist ein Symbol dafür, daß Föderalisten am Werke waren.

Franz Josef Strauß hat aus Anlaß des vierzigjährigen Jahrestages der Rittersturz-Konferenz von der Stunde der Ministerpräsidenten gesprochen und sie alle aufgezählt. Das ist berechtigt, und es wirft zudem ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Unterschied zwischen damals und heute. Die deutsche Einheit 1990 ist zweifellos nicht die Stunde der Ministerpräsidenten, sondern die Stunde des Bundeskanzlers gewesen. Insofern muß sich in diesen vierzig Jahren an den Gewichten wohl etwas geändert haben.

Wo ist der Föderalismus im Grundgesetz verankert? Erstens spricht die Präambel von den Ländern, die sich die Bundesrepublik geschaffen haben. Und das tut auch die heutige Präambel in der Fassung des Einheitsstaatsvertrages, die nunmehr 16 Länder aufzählt. Art. 20 bezeichnet die Bundesrepublik als Bundesstaat. Art. 30 sagt sogar: »Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung des staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt.

Andererseits läßt Art. 24 die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, etwa die EG, zu. Das schließt auch die Übertragung von Hoheitsbefugnissen der Länder ein, jedenfalls bis an die Grenze des Art. 79 Abs. 3, wo es heißt, der Föderalismus könne nicht einmal einstimmig abgeschafft werden.

Art. 31, Bundesrecht bricht Landesrecht. Das bedeutet übrigens, daß selbst die 17. Verordnung zur Anpassung des Bundesrechts an die 27. Richtlinie der EG-Kommission zur Neubestimmung des Milchpulvergehalts der Hamburger Verfassung vorgeht. Das muß man sehen.

Art. 32 Abs. 3 geht von der Gesetzgebungskompetenz der Länder aus. Im Rahmen dieser Gesetzgebungskompetenz dürfen die Länder mit Zustimmung der Bundesregierung mit auswärtigen Staaten Verträge abschließen. Dies haben sie am 2. Oktober 1990 mit der Französischen Republik getan, als sie den deutsch-französischen Kulturkanal gründeten. Damit haben sie einen ewigen Streit mit dem Bund darüber präjudiziert, ob dessen Zustimmung in der Weise zu erfolgen habe, daß die Bundesregierung solche Verträge unterzeichnen müsse. Die Länder haben den Vertrag ohne die Bundesregierung geschlossen. Da gibt es also jetzt Staatspraxis, die für die Länder spricht.

Der Senat dieser schönen Stadt hat 1957 einen Staatsvertrag mit der Tschechoslowakischen Republik geschlossen über deren exterritoriale Rechte im Hamburger Hafen, die auf dem Versailler Vertrag beruhen. Das war damals möglich.

Art. 54 sieht die Bundesversammlung vor, die den Bundespräsidenten wählt. Diese beiden Verfassungsorgane sind die beiden einzigen des Gesamtstaates. Der Bundespräsident ist ein Organ des Gesamtstaates, die Bundesversammlung ist ein Organ des Gesamtstaates, alle anderen Verfassungsorgane sind entweder solche des Zentralstaates oder der Gliedstaaten.

Art. 70 bestimmt das Recht der Länder zur Gesetzgebung, soweit nicht der Bund diese Kompetenz hat. Und dann kommt eines der Einfallstore für die Aushöhlung des Föderalismus, nämlich die konkurrierende Gesetzgebung, Art. 72, wo es heißt: »Der Bund hat in den Bereichen das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht.« Da er selbst beurteilt, ob er dieses Bedürfnis hat, hat er flächendeckend von der konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch gemacht, die Landtage in ihrer parlamentarischen Substanz ausgehöhlt und Demokratie und Föderalismus einen Bärendienst geleistet.

Andererseits ist nach Art. 79 Abs. 3 die Änderung oder Abschaffung des Föderalismus unzulässig. Art. 83 regelt die Exekutive durch die Länder, aber Art. 88 ist ein weiteres Danaergeschenk: Die Bundesbank mit ihren stattlichen Bundesbankgewinnen ist eine Einrichtung des Bundes, obwohl ja (wie Karl Klasen zu berichten weiß) die Bank Deutscher Länder als eine Einrichtung der Länder dieselbe Funktion erfüllt hat. Mir wäre natürlich viel lieber, wenn die Bank noch den Ländern gehörte und wir anstelle des Bundes mit einem bestimmten Prozentsatz an den Bundesbankgewinnen beteiligt wären.

Art. 91a hat Gemeinschaftsaufgaben eingeführt. Mit Art. 104a sind wir beim eigentlichen Nervus rerum: einer vielfach seit 1949 immer wieder neu geregelten Finanzverfassung, die insbesondere seit der Finanzverfassungsreform von 1969 die Länder zu Objekten der Bundespolitik macht.

Diese von der Großen Koalition durch den Bundestag gebrachte Finanzverfassungsreform mußte anschließend auch noch durch den Bundesrat. Inzwischen war die sozialliberale Koalition an die Macht gekommen. Die neue, von Willy Brandt geführte Bundesregierung brauchte Geld, um Reformen zu finanzieren. Der massive Widerstand der Freien und Hansestadt Hamburg gegen diese Finanzverfassungsreform war unliebsam.

Und es erschien Helmut Schmidt im Hamburger Rathaus, um die widerborstigen Pfeffersäcke auf Vordermann zu bringen. Es wurde eine hamburgische sozialdemokratische Allunionskonferenz einberufen. Alle Senatoren, die Fraktion, der gesamte Landesvorstand trafen sich im Hamburger Rathaus. Es prallten die Giganten aufeinander, Weichmann und Schmidt. Schmidt zieh Weichmann pfeffersäckischen Eigennutzes. Alle stimmten ab. Weichmann hatte nur eine Stimme. Schmidt gewann, und Hamburg stimmte zu. So ist es gewesen. Sonst wäre die Sache gescheitert.

Und ich würde heute dem lieben Gott auf Knien danken, wenn sie gescheitert wäre, denn sie kostet uns jedes Jahr Hunderte von Millionen.

So ist die Finanzverfassungsreform von 1969 zustandegekommen.

IV

Die Aushöhlung des Föderalismus wurde durch die Finanzverfassungsreform von 1969 weiter vorangetrieben. Es fehlt in diesem Regelwerk eine Notbremse, nämlich eine Bestimmung, die im Hinblick auf das Nivellierungsverbot, das das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen hat, eine Grenze der Ausplünderung statuiert. Eigentlich müßte man sagen (etwa Art. 107a des GG): »Der jedem Land nach Durchführung aller Stufen der Steuerverteilung und der Finanzausgleiche gem. Art. 106 und 107 des GG verbleibende Anteil an seinem örtlichen Aufkommen an Gemeinschaftssteuern darf x-Prozent nicht unterschzeiten. « Das müßte man eigentlich als eine Generalklausel einführen, um das Gebot der Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse und das Verbot der Nivellierung von Leistungsunterschieden verfassungsgemäß auf einen Nenner bringen zu können. Diese aus Sicht des Föderalismus unverzichtbare Sicherung fehlt bisher. Und darüber wird am Ende in Karlsruhe entschieden werden.

An die Stelle des 1949 eingeführten sogenannten Trennsystems, bei dem jedes Land die Steuern hat und behält, die bei ihm anfallen (aber es gibt eine Art Gerechtigkeitsausgleichsystem), ist mit der Reform der Finanzverfassung von 1969 ein Mischsystem gesetzt. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer als größte Einnahmeträger, dieses alles ist heute Gemeinschaftssteueraufkommen von Bund und Ländern, fließt in einen Topf und muß verteilt werden.

Über die Verteilung wird verhandelt. Die Verhandlungen sind multilaterale Verhandlungen. Sie sind anonym und finden im wesentlichen hinter dem Vorhang statt. Der Bundesfinanzminister bemüht sich um ein Mehrheitspaket, indem er seine Parteifreunde zu disziplinieren sucht und die ihm fehlenden Stimmen so billig wie möglich einkauft.

Gegen die Interessen der Länder wird für ein Linsengericht an Stimmen eingekauft, was noch fehlt. So entleiben sich die Länder, so entleibt sich der Föderalismus selbst. Durch das Hinzutreten von fünf armen, noch auf ein Jahrzehnt strukturschwachen Ländern wird dieser Mechanismus dramatische Dimensionen annehmen.

Das ist übrigens der Grund, warum die vier großen Länder der Bundesrepublik-West darauf bestanden haben, durch Stimmrechtspreizung ihre Veto-Position gegen Zweidrittelmehrheiten zu erhalten: je eine Stimme mehr für Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, so entsteht eine Sperrminorität bei diesen Vieren, die gemeinsam jede Verfassungsänderung blockieren können.

Mit einigen Zahlen möchte ich belegen, welche Auswirkungen die Finanzverfassung auf den vertikalen und horizontalen Steuer-Transfer hat. Die reinen Bundessteuern lasse ich beiseite, obwohl ja auch reine Bundessteuern regional anfallen; sie werden zu 100 Prozent transferiert, und auch in diesem Transfer liegt ein regionaler Finanzierungsbeitrag für das Ganze.

Ich beschränke mich auf das Gemeinschaftssteueraufkommen. Bezogen auf das Gemeinschaftssteueraufkommen, das in jedem Land anfällt, behält von diesem mit 100 Prozent angesetzten Gemeinschaftssteueraufkommen 1989 das Land Berlin 257,6 Prozent; das Land Schleswig-Holstein 85,8 Prozent; Niedersachsen 80,2 Prozent; Rheinland-Pfalz 76,9 Prozent; Saarland 73,5 Prozent; Bayern (das verarmte Bayern) 58,1 Prozent; Bremen 57,1 Prozent. Weniger als die Hälfte behalten Nordrhein-Westfalen (das verarmte Nordrhein-Westfalen) mit 49,5 Prozent, das verarmte Hessen mit 49,0 Prozent und Baden-Württemberg mit 47,8 Prozent. Diese drei geben also über die Hälfte ab. Und nun kommt Hamburg: 30,3 Prozent. Hamburg gibt 70 Prozent ab, behält 30 Prozent. Hamburg ist mit großem Abstand das Schlußlicht, und zwar auf der Basis eines Gemeinschaftssteueraufkommens von etwa 22 Milliarden. Hier wird das Nivellierungsverbot eklatant verletzt.

Ein zweiter Punkt der Aushöhlung des Föderalismus liegt in der flächendeckenden Ausnutzung der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund und in der Ausweitung des Zuständigkeitskatalogs für die konkurrierende Gesetzgebung; auf diese Weise wird die parlamentarische Lebenskraft der Landtage geschwächt.

Parallel zu all diesen Verfassungsänderungen ist der Ausverkauf der Länderrechte in der Verfassungswirklichkeit auch über einen Mechanismus erfolgt, der sich dem Verfassungsrecht entzieht; ich rheine die latente Gefahr politischer Gleichschaltung der Länder über die Parteischiene. Regierung und Opposition erwarten, daß »ihre« Länder ihre Bundestagslinie auch im Bundesrat einhalten. Davon weiß das Grundgesetz nichts. Trotzdem ist es gelegentlich schwer, nein zu sagen.

Ein dritter Aushöhlungsfaktor ist Art. 24 GG, denn die fortschreitende europäische Integration führt zur Übertragung auch von Landeshoheitsrechten auf Brüssel. Wo das endet, weiß heute niemand. Allerdings gibt es die Grenze des Art. 79 Abs. 3: Auch einstimmig ist keine Abschaffung des Föderalismus und keine Brechung der Eigenstaatlichkeit der Länder möglich. Es gibt hier also eine Grenze für das, was der Bund übertragen kann.

Was das Spannungsverhältnis zwischen Ländern beziehungsweise europäischen Regionen, den Nationalstaaten und der EG betrifft, gibt es für die Zukunft drei Varianten. Erstens eine europäische Zentrale: Die bisherigen Nationalstaaten werden zu föderalen Gliedstaaten einer Europäischen Union. Unterhalb dieser Union wäre für Länder in Deutschland realistisch kein Raum, nicht wirklich. Zweite Variante: Die nationalstaatliche Ebene schafft sich selbst allmählich ab, indem sie ihre wesentlichen Funktionen auf die europäische Ebene überträgt. Das ist das Lieblingsmodell der Ministerpräsidenten der Länder. Denn die Funktionen und Kompetenzen der Länder blieben ungeschmälert bestehen. Die »Mediatisierung« der Länder durch den Bund gegenüber der europäischen Zentrale würde schleichend abgebaut. Ob das sehr realistisch ist, möge jeder selbst beurteilen. Da der Bund den heraufziehenden Interessenkonflikt der beiden staatlichen Ebenen in Deutschland natürlich auch sieht, wehrt er sich und versucht im Rahmen der europäischen Integration, die Länder so weit wie möglich herauszuhalten. Unterstützung findet der Bund bei den gewachsenen europäischen zentralistischen Nationalstaaten. England denkt nicht im Traum daran, plötzlich wieder Schottland oder Wales hochkommen zu lassen. Die Franzosen haben erst recht kein Interesse daran, ihre Regionen zu stärken.

Und schließlich ist vor einigen Wochen in den Medien einmal das »Modell« der Auflösung der deutschen Föderation in etwa sechs echte Nationalstaaten mit deutscher Geschichte diskutiert worden. Dieses Modell der »Österreichisierung« wäre aus europäischer Sicht vielleicht ganz charmant. Aber vor dem Hintergrund der deutschen Einheit des Jahres 1990 ist es natürlich kein realistisches Szenario.

Gern möchte ich die föderale Aushöhlung am Beispiel Hamburgs und seines Freihafenstatus erläutern. Am 25. Mai 1881, ein Jahrzehnt nach der Reichsgründung, trat diese schöne Stadt widerstrebend der deutschen Zollunion bei, der sie bis dahin nicht angehörte. In Art. 34 der Reichsverfassung war das abgesichert: Ohne Hamburgs Zustimmung kann der Freihafen weder aufgehoben nach eingeschränkt werden.

1919, in der Weimarer Reichsverfassung, war bereits eine gravierende Verschlechterung zu erkennen: Die Aufhebung des Freihafens durch das Reich war jetzt ohne Hamburgs Zustimmung möglich. Es war nur ein verfassungsänderndes Gesetz erforderlich.

1949 brachte das Grundgesetz eine weitere Verschlechterung: Ohne Hamburgs Zustimmung war die Aufhebung sogar durch einfaches Gesetz möglich. Allerdings galt dies nur für das westdeutsche Provisorium, also bis Oktober 1990, nicht für Deutschland als Ganzes.

Bei Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 gab es eine Zusicherung der Bundesrepublik Deutschland durch einen bei unseren Akten befindlichen Brief des Bundesaußenministers von Brentano: Die Römischen Verträge tangieren den Freihafen nicht, der Freihafen bleibt Zollausland auch gegenüber der EG. Die EG kümmerte sich jedoch nicht um Herrn von Brentano und verordnete 1969, daß der Freihafen zum Zollgebiet der Gemeinschaft gehört. Nach nationalem Recht war der Freihafen Hamburg also Zollausland, nach europäischem Recht Zollinland. Seither ist dieser Freihafen disponibel für Brüssel. Die Freizonenverordnung vom 25. Juli 1988 hat das überdeutlich gemacht: Da gibt es nur noch eine Fiktion mit Protokollerklärung der Bundesregierung. Eine ganz gefährliche Schwächung von eigenstaatlicher Souveränität über autonome staatliche Regelungskompetenz bis hin zu provinzieller Abhängigkeit von entfernten Dritten und - schlimmer - den Interessen Dritter.

Ein letzter Punkt der Aushöhlung ist die traurige Geschichte des Art. 29. Die Gliederung der Bundesrepublik ist ja nicht wirklich wettbewerbsfähig, und das gilt jetzt im Zuge der deutschen Einheit mit sechzehn Ländern erst recht. Gleichwohl schließt die Fassung des Art. 29 realistischerweise Länderneugliederungen aus - selbst regional einvernehmliche. Das ist ein erhebliches Manko, das an Bedeutung gewinnt, wenn man nach vorne blickt in die europäische Zukunft. Denn natürlich müssen wir Deutsche im europäischen Integrationsprozeß wettbewerbsfähige Regionen haben.

In der Geschichte der Neugliederungsdiskussion gab es viele kluge Vorschläge. 1947 schlug Ministerpräsident Lüdemann, Schleswig-Holstein (SPD), zwei Nordstaaten vor, ein Vorschlag, den Ministerpräsident Helmut Lemke, Schleswig-Holstein (CDU), 1969 wiederholte. Franz Meyers, Nordrhein-Westfalen (CDU), machte 1965 und 1966 ebenso Vorschläge wie Landtagspräsident John van Nes Ziegler, Nordrhein-Westfalen (SPD), 1967. Es folgten SPD-Innenminister Krause aus Stuttgart 1969, Heinz Kühn, Nordrhein-Westfalen (SPD), 1970, Albert Osswald, Hessen (SPD), 1971 und Alfred Kubel, Niedersachsen (SPD), 1972.

Ernsthaft gearbeitet an solchen Vorschlägen wurde 1951 mit einem Sachverständigenausschuß und dann vor allem durch die sogenannte Ernst-Kommission. Die einzige Länderneugliederung, die es gegeben hat, war jedoch die Bildung des Landes Baden-Württemberg.

Was spricht aus der Sicht Hamburgs unter den Bedingungen des gegenwärtigen Grundgesetzes gegen eine Fusion? Das läßt sich schon anhand des leichtesten Falles, des bloßen Zusammenschlusses von Schleswig-Holstein und Hamburg, einfach beantworten. Zunächst verlöre der Norden im Bundesrat an Gewicht gegenüber dem Süden. Auf die Finanzausstattung der fusionierten Länder Nordelbiens würde sich ein solcher Zusammenschluß wie folgt auswirken: Nordrhein-Westfalen gewinnt jährlich 168 Mio., Baden-Württemberg gewinnt jährlich 175 Mio., Niedersachsen gewinnt jährlich 455 Mio., Hessen gewinnt jährlich 232 Mio., Rheinland-Pfalz gewinnt jährlich 123 Mio., Saarland gewinnt jährlich 66 Mio., Bremen gewinnt jährlich 54 Mio. Zwei verlieren ein bißchen, nämlich Hamburg und Schleswig-Holstein; gemeinsam verlieren sie jährlich 1,273 Mrd.

Dieser Einnahmeausfall scheint mir unverantwortbar. Bayern plus/minus Null, alle anderen gewinnen, Hamburg und Schleswig-Holstein aber verlieren gemeinsam knapp 1,3 Mrd. - das ist geradezu absurd.

Ich bin für eine Länderneugliederung, aber man darf nicht mit der schlichten Grenzfrage beginnen, man darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Man muß erst die Rahmenbedingungen des Grundgesetzes, die Kompetenzkataloge und die Finanzausstattung ändern. Und die Gelegenheit ergibt sich während der bevorstehenden Verfassungsdebatte im geeinten Deutschland.

Damit nicht der Eindruck entsteht, als sähe ich infolge meines Amtes als einer der Regierungschefs der Länder den Föderalismus als Einbahnstraße zu Lasten des Bundes, als würde ich pro domo sprechen, ein Gegenbeispiel. Der Hochschulföderalismus funktioniert bisher nur sehr eingeschränkt.

Die »Nachfrage« nach Studienplätzen im Bundesgebiet ist politisch nicht beeinflußbar. Sie ergibt sich aus der Summe der Einzelentscheidungen junger Leute in allen elf, künftig allen sechzehn Ländern. Diese Lebensentscheidungen sind nach Art. 12 GG gerichtlich durchsetzbar.

Dreht man die Medaille um, so ergibt sich das »Angebot« an Studienplätzen - regional wie sektoral - durch die politischen Einzelentscheidungen der Länder. Ihre politischen Entscheidungen, so mein Verdacht, dienen aber nicht der Absicht, einen konzertierten Beitrag zu einem bundesweit sinnvollen, die Nachfrage deckenden Hochschulangebot Deutschlands zu leisten. Sondern die politischen Entscheidungen der Länder verfolgen in erster Linie offenbar die Ziele regionaler Strukturpolitik mit dem Mittel der Wissenschaftspolitik.

Es liegt auf der Hand, daß Angebot und Nachfrage so weder regional noch sektoral zur Deckung gebracht werden können. Daß ein Mißstand sich entwickelt, sieht man an den Hochschulsonderprogrammen des Bundes, mit denen dieser trotz fehlender grundgesetzlicher Kompetenz - unter dem Deckmantel »Forschung« - einzugreifen sucht.

Angesichts dieses Hintergrundes lassen sich gewachsene Zufälligkeiten in der Hochschullandschaft nur schwer durch Umstrukturierung korrigieren. Für Hamburg wirkt sich dies so aus, daß die Hamburger Steuerzahler pro Kopf den höchsten Betrag für ihre Hochschulen aufwenden (Berlin außer $etracht gelassen), daß pro Kopf der in Hamburg Studierenden jedoch der geringste Betrag »ankommt«. Dies liegt an der ganz besonders hohen Überlast in Hamburg. Gleichmäßiges Wachstum der Hochschulen wäre die falsche Antwort. Die Hamburger Universität muß kleiner werden. Ihre inneren Lehr- und Studienbedingungen müssen besser werden. Soweit Studienplatzmangel, etwa auf dem Gebiet der Betriebswirtschaftslehre, in Deutschland zu verzeichnen ist, muß dieser Mangel dort behoben werden, wo unterproportional Studienplätze angeboten werden, nicht durch Draufsatteln auf unseren ohnehin übergroßen Fachbereich. Eine solche Korrektur regionaler Ungewichtigkeiten bedarf jedoch der Abstimmung im Hochschulföderalismus und scheitert häufig.

V

Alle diese Probleme unseres deutschen Bundesstaates werden durch den Beitritt der fünf Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen nicht kleiner, sondern größer. Einerseits zeigt die Bildung dieser fünf Länder und ihr Beitritt, wie kraftvoll die Idee der Einheit der deutschen Nation als Erbe unserer Geschichte nach wie vor ist. Andererseits zeigt sie aber auch, wie kraftvoll 53 Jahre nach Gleichschaltung der Länder durch den NS-Staat die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer engeren Heimat nach wie vor. ist. Staatliche Eigenständigkeit in der Einheit ist die doppelte Antwort der Bürger.

Die Probleme werden größer. Denn auf einem Territorium von ungefähr 108 000 qkm mit 16,7 Mio. Menschen, also einer Bevölkerung, die in etwa derjenigen Nordrhein-Westfalens entspricht, werden fünf Länder gebildet - alle relativ klein, jedenfalls auf Jahre sehr arm, im Norden strukturschwach, im Süden mit veralteten Industriestrukturen und erheblichen Umweltaltlasten.

Bis auf Sachsen sind die hinzutretenden Länder von ihrer Größe und Einwohnerzahl im wesentlichen mit Schleswig-Holstein zu vergleichen, also mit einem Land, das in den vergangenen vierzig Jahren eher als struktur- und finanzschwach galt. Sachsen ist mit Hessen zu vergleichen; es war bis 1939 strukturstark, ist heute aber nicht wettbewerbsfähig.

Insgesamt muß man davon ausgehen, daß sich in den fünf neuen Ländern ein SüdNord-Gefälle einstellen könnte. Prognosen gehen davon aus, daß Sachsen und Thüringen in zehn Jahren zum oberen Drittel der reichen Länder gehören, während Sachsen-Anhalt, Brandenburg (außer im Großraum Berlin) und Mecklenburg-Vorpommern strukturschwach und arm bleiben dürften. Nicht auszuschließen ist, daß bei überhandnehmenden Umweltaltlasten im Süden der bisherigen DDR Investitionen in weniger belastete Landesteile gehen könnten.

Festzustellen scheint mir jedenfalls, daß es der Bundesregierung angesichts des notwendigen Finanztransfers in die fünf neuen Länder auf mindestens ein Jahrzehnt noch leichter fallen dürfte, die sechzehn deutschen Länder gegeneinander auszuspielen und Mehrheitspakete zu schnüren, die dem Föderalismus zuwiderlaufen, aber über parteipolitische Disziplinierung plus »Stimmenfang durch kleine Gefälligkeiten« trotzdem immer wieder zustande kommen.

VI.

Es bleibt die Frage, welche politischen Schlußfolgerungen aus dieser Bestandsaufnahme des Föderalismus abgeleitet werden müssen.

Ich freue mich auf die im Einigungsstaatsvertrag vereinbarte zweijährige Grundgesetzdebatte. Ich bin für die Überleitung des Grundgesetzes in eine endgültige Verfassung des geeinten Deutschland durch eine Volksabstimmung.

Die inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten über Änderungen des Grundgesetzes werden zweifellos in erster Linie im Deutschen Bundestag ausgetragen werden. Der Bundesrat sollte sich in erster Linie um eine Generalrevision des Föderalismus in der Verfassung kümmern. Aus meiner Sicht geht es dabei um vier Komplexe.

    1. Konkurrierende und Rahmengesetzgebung dürfen durch den Bundestag nicht mehr flächendeckend ausgeübt und damit mißbraucht werden, sondern müssen nicht nur dem Wortlaut des Grundgesetzes nach, sondern in der Verfassungswirklichkeit an die Forderung geknüpft sein, daß ein Bedürfnis für bundeseinheitliche Rechtssetzung vorliegt.

    2. Geltende Bestimmungen, die dieser Voraussetzung nicht entsprechen, müssen in einer Übergangsfrist durch die Landtage außer Kraft gesetzt werden können.
  1. Der Kompetenzkatalog zwischen Bund und Ländern muß nach dem Grundsatz Do ut des in seiner Gesamtheit durchgesehen werden.

  2. Die Finanzverfassung muß revidiert werden. Insbesondere diejenigen Bestandteile der Finanzverfassungsreform von 1969, die das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben, müssen zurückgeschnitten werden. Zur Eigenstaatlichkeit eines jeden Landes gehört, daß ihm Einnahmen zufließen, über die es allein entscheidet und die es mit niemandem zu teilen hat. Nur dann kann von Einnahmeautonomie der Länder

gesprochen werden. Es müssen wieder mehr Elemente des Trennsystems in das geltende Mischsystem eingeführt werden.

Außerdem spreche ich mich für die Einführung einer Untergrenze der Abführung aus. Diese könnte etwa als Art. 107a in das Grundgesetz aufgenommen werden. Ich wiederhole den Wortlaut: »Der Anteil, der einem jeden Land nach Durchführung aller Stufen der Steuerverteilung sowie der Finanzausgleiche gemäß Art. 106 und 107 GG von seinem örtlichen Gemeinschaftssteueraufkommen verbleibt, darf nicht unter... von 100 absinken. «

Eine solche Vorschrift liegt in der Logik des Nivellierungsverbotes des Bundesverfassungsgerichtes. Ich bin sicher, daß die Länder sich nur schwer auf einen Vom-Hundert-Satz einigen können, daß mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts aber eine Annäherung möglich ist. Plausibel wäre ein Satz, der sich nicht zu weit von 50 entfernt.

4. Erleichterung von Länderneugliederungen durch Änderung des Art. 29. Aus meiner Sicht müssen ein Staatsvertrag zwischen den betroffenen Ländern und die Mehrheit in einer Volksabstimmung der betroffenen Länder - und zwar getrennt gezählt -ausreichen. Sind nur Gemeinden, Landkreise oder Regierungsbezirke eines größeren Landes von Neugliederungsnotwendigkeiten betroffen, so muß dieMehrheit in diesen Teilen genügen.

VII.

Deutschland wird im Zeichen der Einheit norddeutsches ostdeutscher und protestantischer. Aber ob der Norden dadurch stärker wird? Ob der Föderalismus dadurch stärker wird?

Jetzt oder nie, hätte es heißen müssen, als der Einigungsstaatsvertrag vorbereitet wurde. Damals bestand die Gelegenheit zu einer Paketlösung, aus der niemand heraus hätte können. Die Stimmenspreizung in Art. 51 GG hat dies bewiesen. Leider haben die Länder nicht auf Befassung ihres gesamten Föderalismuspakets bestanden, auf das sich die elf geeinigt hatten, sondern letztlich der Abkoppelung des Pakets zugestimmt. Das ist kein gutes Omen.