Der schweizerische Föderalismus aus internationaler Sicht
ch-Regierungsseminar 2009, 7. 1., Interlaken
Prof. Dr. A. Koller, alt-Bundesrat
„Plus j’ai étudié la géographie, l’histoire et les habitudes de votre pays, et plus je me suis convaincu qu’il ne devait pas être assujetti à un gouvernement et à des lois uniformes… Si vous choisissez un Bernois, vous mécontentez Zurich, choisissez un Zuricois, vous mécontentez Berne. Même difficulté entre les catholiques et les protestants… Je n’ai jamais cru un moment que vous puissiez avoir une république une et indivisible…Il faut diversité de gouvernements à des pays si divers… La Suisse a été intéressante aux yeux de l’Europe comme Etat fédératif, et elle pourra le redevenir comme telle”.
Das sind Worte, welche Napoleon Bonaparte, als Erster Konsul Frankreichs, nach dem offensichtlichen Fehlschlag der „République Helvétique une et indivisible“ vor ziemlich genau 206 Jahren an die nach Paris geladene Schweizer Deputation gerichtet hat. Ihm wird auch das geflügelte Wort zugeschrieben: „La Suisse est fédérative, ou elle n’est pas.“ Diese auch heute noch hoch interessanten Aussagen zeigen, wie rasch und gut das Genie Napoleon (wenn auch nicht ganz ohne Eigeninteressen) das Wesen der Schweiz erfasst hat.
Mit dieser gleichsam von der Natur vorgegebenen Berufung der Schweiz für den Föderalismus ist freilich noch nichts über dessen angemessene konkrete Ausgestaltung gesagt. Und wie wir alle wissen, ist der föderalistische Prozess in unserm Lande nach wie vor im Gange und der Bundesstaat Schweiz noch immer in Entwicklung.
Wenn ich Ihnen, meine Damen und Herrren Regierungsräte, einige Gedanken zum schweizerischen Föderalismus aus internationaler Sicht vortragen darf, so komme ich nicht um eine methodische Vorbemerkung herum. Von den 192 Mitgliedstaaten der UNO sind heute nur 25 Bundesstaaten in dem Sinne, dass sie in ihrer Verfassung eine Aufgabenteilung zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten vorsehen, beide Rechtsordnungen die Bürgerinnen und Bürger direkt erfassen und den Gliedstaaten Mitwirkungsrechte bei der Willensbildung des Zentralstaates gewähren. Aber in diesen expliziten oder de facto Bundesstaaten leben heute über 40 % der Weltbevölkerung, weil gerade besonders bevölkerungsreiche Bundesstaaten wie Indien, USA, Brasilien, Pakistan, Russland, Nigeria, Mexico dazu gehören. Die Bedeutung des Föderalismus in der heutigen Welt kann daher kaum überschätzt werden.
Soll man nun aber den schweizerischen Föderalismus aus internationaler Sicht beurteilen, stellt sich natürlich sofort die Frage nach dem Massstab oder den Beurteilungskriterien. Das Forum of Federations mit Sitz in Ottawa, das neben Kanada von 9 weiteren Bundesstaaten worunter die Schweiz unterstützt wird, hat in den letzten Jahren in einer grossen Publikationsreihe „Global Dialogue on Federalism“ Grundfragen des Föderalismus wie verfassungsrechtliche Strukturen, Aufgabenteilung, Finanzföderalismus, Rolle der Gliedstaaten in der Aussenpolitik, Stellung der Gemeinden usw. für jeweilen 12 Bundesstaaten nach einheitlichem Frageschema untersucht. Die Vergleiche haben überraschende Resultate gebracht.
Einmal fällt die verwirrende Vielfalt der konkreten Ausgestaltungen der einzelnen Bundesstaaten auf. Sodann wurde festgestellt, dass gleiche föderalistische Institutionen in unterschiedlichen Ländern sehr verschiedene Wirkungen haben können. Um Ihnen das an einem Beispiel zu zeigen. Australien und die Schweiz verlangen beide für Verfassungsänderungen ein Referendum mit der Mehrheit des Volkes und der Gliedstaaten(6 in Australien, 26 in der Schweiz). Während dieses System in der Schweiz zwischen 1874 und 2000 163 Verfassungsänderungen ermöglicht hat, wobei drei Viertel der Behördenvorlagen erfolgreich waren, hat Australien mit dem gleichen System bei 44 Versuchen nur 8 Verfassungsänderungen realisiert.
Dieses Beispiel zeigt, dass man bei internationalen Vergleichen von Bundesstaaten vorsichtig sein muss. Man kann daher ohne Berücksichtigung des Gesamtsystems auch nicht einfach gewisse
in einem Bundesstaat erfolgreiche föderalistische Institutionen in andere Länder verpflanzen. Anderseits sind internationale Vergleiche bei der Lösung konkreter föderalistischer Fragen hilfreich. Denn die föderalistischen Grundfragen sind in fast allen Bundesstaaten die gleichen. Vergleiche zeigen daher Lösungsmöglichkeiten, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Zudem können Bundesstaaten aus den Erfolgen und Misserfolgen anderer Bundesstaaten viel lernen.
Das Hauptproblem einer Beurteilung des schweizerischen Föderalismus aus internationaler Sicht liegt jedoch darin, dass es bezüglich Föderalismus (etwa im Unterschied zum Rechtsstaat) irgendwie verbindliche Beurteilungsmassstäbe nicht gibt. Es gibt kein idealtypisches Modell des Föderalismus, an dem sich der schweizerische messen liesse, noch gibt es bisher einen „ Code of good federal practices“, welcher als Leitlinie der Beurteilung dienen könnte.
Es lässt sich auch nicht sagen je dezentralisierter ein Bundesstaat desto besser. Denn eine Föderation kann auf Kosten der Handlungsfähigkeit des Zentralstaates die Dezentralisierung, so wohl im Fall Belgien, auch übertreiben. Einen grossen Unterschied macht sodann aus, ob ein Bundesstaat wie die USA, die Schweiz, Deutschland von unten nach oben gewachsen ist, oder ob er von oben her entschieden wurde(wie in Belgien und jetzt im Irak). Denn eines ist es, föderale Verfassungen zu schreiben und ein anderes, eine föderalistische Kultur zu entwickeln. Es verwundert daher nicht, dass die einen die Flexibilität des Föderalismus über alles rühmen, die in jedem Bundesstaat massgeschneiderte Lösungen ermögliche, und die andern kritisieren, Föderalismus sei ein Chamäleon-artiges Konzept, das jedermann erlaube, es für seine politischen Zwecke zu missbrauchen. Hieraus folgt, dass ich im folgenden mehr eine vergleichende denn eine idealtypische Beurteilung des schweizerischen Föderalismus zu geben versuchen werde.
Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen
Die wohl wichtigste Grundfrage, die jeder Bundesstaat zu entscheiden hat, ist die Aufgaben- oder Zuständigkeitsteilung ( distribution of powers) zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten, in unserem Fall zwischen Bund und Kantonen. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen exklusiven Zuständigkeiten des Bundes und der Kantone und sog. gemeinschaftlichen oder konkurrierenden Kompetenzen. Wie ein internationaler Vergleich zeigt, bieten sich methodisch grundsätzlich zwei Möglichkeiten an: Die Bundesverfassung enumeriert die Zuständigkeit des Zentralstaates und belässt alle übrigen Staatskompetenzen bei den Gliedstaaten (sog. subsidiäre Generalkompetenz). Dieser Lösung folgen u.a. die USA, Deutschland, Oesterreich und die Schweiz. Oder die Bundesverfassung zählt die Kompetenzen der Gliedstaaten auf und belässt die subsidiäre Generalkompetenz beim Zentralstaat (so Kanada, Belgien, Indien).
Für Schweizer Föderalisten, die zu Recht auf Art. 3 BV als föderalistischer Grundnorm insistieren, ist nun interessant, dass mit der Zuteilung der subsidiären Generalkompetenz im internationalen Vergleich keineswegs schon über den Grad der Zentralisierung oder Dezentralisierung entschieden ist, weil dies natürlich vor allem von der effektiven Zuweisung der Zuständigkeiten abhängt. So ist beispielsweise Kanada sicher mehr dezentralisiert als Oesterreich, obwohl in Kanada die subsidiäre Generalkompetenz dem Zentralstaat zusteht. Ein strukturelles Defizit der schweizerischen Kompetenzverteilung scheint mir darin zu liegen, dass unsere Verfassung für den Konfliktfall zunächst zwar richtigerweise auf den Verhandlungs- und Mediationsweg verweist (Art. 44 Abs. 3 BV), aber letztlich nicht wie praktisch alle Bundesstaaten einen Schiedsrichter in Form eines Verfassungsgerichtes bereitstellt.
Jüngst hat mir ein deutscher Kollege gesagt, er habe sich die neue schweizerische Bundesverfassung näher angeschaut und er sei verblüfft gewesen, welch unglaublich grosse Zahl von Artikeln sich mit den Zuständigkeiten des Bundes befassten. Es sind in der Tat 71 Artikel. Das deutsche Grundgesetz handle das im wesentlichen in zwei Artikeln, dem Art. 73 (Gegenstände ausschliesslicher Gesetzgebung des Bundes) und Art. 74 (Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung) ab. Ich habe ihm dann erklärt, das habe vor allem mit dem historischen Werdegang unseres Bundesstaates zu tun, indem der Bund alle neuen Bundeskompetenzen durch Verfassungsänderungen, welche die Zustimmung der Mehrheit von Volk und Ständen erforderten, erwerben musste. Im übrigen sei dies auf eine unterschiedliche Technik der Verfassungsgebung zurückzuführen, weil sich die Bundesrepublik Deutschland wie viele Bundesstaaten sog. Zuständigkeitslisten bediente, währenddem die Schweiz auch in der neuen Verfassung aus historischen Gründen die artikelweise, vielfach sehr ins Einzelne gehende Enumeration bevorzugte. Einzelne Bundesstaaten wie Indien kennen sogar drei Zuständigkeitslisten: eine für den Zentralstaat, eine für die Gliedstaaten und eine für konkurrierende Zuständigkeiten.
Für die Frage, wie stark der Föderalismus in einem Land verankert bleibt, ist natürlich der Inhalt der Bundeskompetenzen wichtiger als die Form seiner Umschreibung. Diesbezüglich lässt sich (mit Ausnahme Belgiens als einem neuen Bundesstaat) generell festhalten, dass das 20. Jahrhundert mit der Entwicklung des modernen Leistungs- und Sozialstaates in allen Bundesstaaten ein Jahrhundert der Zentralisierung war. Auch in der Schweiz wurden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg dem Bund in rascher Kadenz neue Kompetenzen und Aufgaben übertragen, was wenigstens zum Teil
auf Kosten der Kantone geschah (z.B. Gewässerschutz, Atomenergie, Filmwesen, Nationalstrassen, Zivilschutz, Raumplanung, Umwelt- und Konsumentenschutz, Konjunkturartikel, Radio und Fernsehen, Gentechnologie usw.) Damit ergab sich auch in unserm Land die Gefahr, dass den Kantonen immer mehr sog. Vollzugsföderalismus übrig blieb. Im Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft greift heute der Zentralstaat auch in der Schweiz zunehmend über internationale Verträge in Zuständigkeiten der Kantone ein. Und trotzdem wäre es verfehlt, generell von einem Niedergang des Föderalismus in unserm Land zu sprechen.
Im internationalen Vergleich haben es unsere Kantone jedenfalls verstanden, auf den klassischen Gebieten gliedstaatlicher Zuständigkeit wie dem Schul- und Gesundheitswesen, dem Bau- und Planungsrecht, der Sozialfürsorge, der Polizei, dem Gemeindewesen und der Kultur im Vergleich zu andern Bundesstaaten grosse Eigenständigkeit zu bewahren (Genaueres liesse sich nur aufgrund eines Einzelvergleichs mit anderen Bundesstaaten sagen). Und mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) ist es sogar gelungen, 11 bisher gemeinsam mit dem Bund verantwortete Staatsaufgaben in die ausschliessliche Zuständigkeit der Kantone zurückzuführen.
Aus internationaler Sicht ist sodann beeindruckend, dass sich die Anpassung des schweizerischen Bundesstaates an die neuen Herausforderungen durchwegs durch demokratische Entscheide von Volk und Ständen erreichen liess, während in anderen alten Bundesstaaten wie den USA, Kanada, Australien das meiste auf dem
Wege richterlicher Verfassungsinterpretation und neuer Behördenpraxis geschah. Es wäre sicher verfehlt, von der
in den letzten Jahrzehnten starken Zunahme der Bundeskompetenzen auch in der Schweiz einfach auf einen entsprechenden Bedeutungsverlust der Kantone zu schliessen. Denn die Staatstätigkeit hat in dieser Zeit der Schaffung des modernen Leistungs- und Sozialstaates auch in der Schweiz auf allen staatlichen Ebenen, dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden stark zugenommen. Zudem haben die Kantone den Kompetenzverlust wenigstens zum Teil durch neue Mitwirkungsrechte im Bund, z.B. in der Aussenpolitik, kompensieren können.
Eidgenössischer Finanzföderalismus
Das finanzielle Rückgrat der Eigenständigkeit der Kantone ist ihre Kompetenz, eigene Steuern zu erheben. Die Kantone beschaffen im Durchschnitt rund 77 % ihrer Einnahmen in eigener Kompetenz und werden diesbezüglich im internationalen Vergleich nur von den kanadischen Provinzen übertroffen, die sogar 87 % selber erwirtschaften. Der Eidgenössische Finanzföderalismus erhält denn auch in internationalen Vergleichen in fast jeder Hinsicht Bestnoten.
(Ich folge im folgenden vor allem den vergleichenden Darstellungen von Ronald Watts, Comparing Federal Sytems, 3rd. ed. 2008)
In den meisten Bundesstaaten ist die Einnahmenbeschaffung aller drei staatlichen Ebenen bei den Zentralstaaten konzentriert, wobei die Prozentzahlen von 50 bis über 90 % reichen. Zur Begründung dieser an sich wenig föderalistischen Lösungen werden administrative Vereinfachungen, Vermeidung von Steuerdumping und die Notwendigkeit des vertikalen Finanzausgleichs angegeben. Demgegenüber sprechen bessere Uebereinstimmung von Nutzern und Zahlern, die Vorteile von Steuerwettbewerb unter den Gliedstaaten sowie die Stärkung derer Autonomie für eine Dezentralisierung der Mittelbeschaffung. Die Schweiz weist mit rund 40 % der Einnahmenbeschaffung durch den Bund die niedrigste Quote auf (vor Kanada mit 47 %).
Auch bei den Staatsausgaben (nach Abzug der Transfers) ist in der Schweiz der Bundesanteil mit 32 % der kleinste, vor Kanada und der Bundesrepublik mit je 37 %. Im Falle Oesterreichs sind es bereits
55 %.
Der einzige grössere „Tolgen“ im finanzföderalistischen Reinheft der Schweiz war bisher, dass 75 % der Transferzahlungen des Bundes an die Kantone zweckgebunden waren und dadurch die Handlungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit der Kantone stark eingeschränkt wurde. Diesbezüglich wurde die Schweiz nur noch von Oesterreich und den USA übertroffen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Vereinigten Staaten wohl als einziger Bundesstaat keinen Finanzausgleich, sondern nur zweckgebundene Transferzahlungen (sog. conditional grants) für bestimmte Programme kennen. Nach Einführung des Neuen Finanzausgleichs dürfte dieser Schönheitsfehler bedeutend geringer sein, weil ja ein wichtiger Zweck der Neuordnung darin bestand, den Kantonen vermehrt frei verfügbare Mittel zukommen zu lassen und sie somit in ihrer finanzpolischen Handlungsfreiheit zu stärken. (Nach Einführung des NFA sollen jetzt 50% der Transferzahlungen nicht zweckgebunden erfolgen, was die Schweiz international ins Mittelfeld bringt).
Zwei Anmerkungen scheinen mir noch nötig. Wie angetönt geht es bei der Beurteilung des bundesstaatlichen Finanzföderalismus auch um Wertungen. Aus föderalistischer Sicht dürfte aus den genannten Gründen der Spitzenplatz der Schweiz (zusammen mit Kanada) aber kaum bestritten sein.
In vielen Bundesstaaten, vor allem in Kanada, den USA usw., gibt die sog. spending power des federal government immer wieder zu Diskussionen Anlass. Als biederer Schweizer hatte ich immer Mühe, mir darunter überhaupt etwas Konkretes vorzustellen. Man versteht darunter die Kompetenz der Bundesregierungen auch im ausschliesslichen Kompetenzbereich der Gliedstaaten Finanzbeiträge des Bundes zu leisten (und damit gelegentlich auch Wahlkampf zu betreiben). Obwohl das für Bundesregierungen verlockend sein muss, können wir froh sein, dass wir dieses bundesstaatliche Problem meines Wissens in unserm Lande nicht kennen.
Vergleich föderalistischer Institutionen
Innenpolitisch werden unsere klassischen föderalistischen Institutionen, Ständemehr und Ständerat, periodisch kritisiert, vor allem weil sie dem Demokratieprinzip zu wenig Rechnung trügen. Wie sind die Institutionen, welche die Mitwirkung der Kantone bei der Willensbildung des Bundes sicherstellen, aus internationaler Sicht zu beurteilen?
Vorerst ist festzuhalten, dass sich aus dem Wesen des Bundesstaates als zweier souveräner Rechtsordnungen ergibt, dass die Aenderung dieser verfassungsmässigen Zuständigkeitsordnung nicht einseitig erfolgen kann, sondern regelmässig auch der Mitwirkung der Gliedstaaten bedarf. Im einzelnen sind diese Mitwirkungsrechte bei Verfassungsänderungen allerdings sehr unterschiedlich und selbst bei gleicher Ausgestaltung wie in der Schweiz und Australien, so haben wir gesehen, kann die Auswirkung verschieden sein.
Die Bundesrepublik Deutschland verlangt eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat ohne Referendumsmöglichkeit. Das deutsche Grundgesetz wurde in den 60 Jahren seit seinem Erlass 53 mal geändert. Die Revisionsbestimmungen habe sich somit trotz dem Erfordernis des qualifizierten Mehrs als recht flexibel erwiesen. Ein besonders schwieriges Verfahren der Verfassungsänderung kennen die USA. Im Hauptfall, dass die Revision vom Kongress ausgeht, verlangt Art. V der US-Verfassung die Zustimmung von 2/3 beider Häuser und die Ratifikation durch ¾ aller Gliedstaaten, d.h. heute von 38 der 50 Einzelstaatsparlamente.
In den 221 Jahren seit der Gründung ist die US-Verfassung denn auch nur 27 mal geändert worden, ohne die „bill of rights“ aus dem Jahre 1791, welche eigentlich Teil des mühsamen Ratifikationsverfahrens war, sogar nur 17 mal. Das erstaunt umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika seit ihrer Gründung von einer eher unbedeutenden Föderation von 13 Staaten an der Ostküste mit rund 4 Mio Einwohnern zu einem 50 Mitgliedstaaten umfassenden Bundesstaat, dem mächtigsten der Welt, mit einem Volk von gut 290 Mio Menschen entwickelt haben. Ohne die einmalige Kürze und Offenheit der US-Verfassung und der dynamischen Interpretation durch den Supreme Court wäre die US-Verfassung wegen der allzu schweren Abänderbarkeit wohl zum Scheitern verurteilt gewesen.
Ganz anders bekanntlich die schweizerische Bundesverfassung. Sie wurde trotz dem obligatorischen Verfassungsreferendum und damit der Notwendigkeit der Mehrheit von Volk und Ständen in 125 Jahren 163 mal abgeändert. Sie hat sich damit als eine der flexibelsten föderalen Verfassungen der Welt erwiesen. Dabei hängt die grosse Zahl sicher auch mit der sehr detaillierten Umschreibung der Bundeskompetenzen und dem Fehlen der Gesetzesinitiative zusammen. Es lässt sich daher kaum behaupten, das Ständemehr habe die notwendige Anpassung der Schweiz an die Herausforderungen der Moderne übermässig erschwert. Auch unter Berücksichtigung der 8 am Ständemehr gescheiterten Volksabstimmungen ( rund 5 %) vermag aus internationaler Sicht keinen dringenden Reformbedarf zu begründen. Denn es ging in allen acht Fällen um die Begründung neuer Bundeskompetenzen, so dass man mit gutem Grund sagen kann, das Ständemehr habe seine Funktion des Schutzes der Gliedstaaten erfüllt. Was übrigens die viel kritisierte unterschiedliche Bedeutung der Stimmen in kleinen und grossen Bundesstaaten betrifft, ist aus internationaler Sicht darauf hinzuweisen, dass die Unterschiede zwischen Wyoming (522 OOO Einwohner) und Kalifornien (38 Mio) in den USA bedeutend grösser ist als zwischen Uri (34 600) und Zürich (l,3 Mio) in der Schweiz (Faktor 73 gegenüber 38).
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Wie bietet sich der Ständerat aus internationaler Sicht dar?
Zunächst ist festzuhalten, dass praktisch alle Bundesstaaten ein Zweikammersystem kennen. Es gibt allerdings grosse Unterschiede bezüglich Wahl, Zusammensetzung und Kompetenzen der zweiten, sog. föderalen Kammern. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratieprinzip (one man, one vote) und dem föderalen Prinzip der Gleichheit der Gliedstaaten spielt bei der Zusammensetzung der zweiten Kammern eine grosse Rolle. Schon der US-Senat war ein Kompromiss zwischen bevölkerungsmässiger und gliedstaatlicher Repräsentation (Connecticut Kompromiss) und auch in der Schweiz war im Jahre 1848 die Uebernahme des amerikanischen Modells im letzten Moment der Ausweg aus einer schwierigen Verhandlungssituation.
Auf internationaler Ebene ist das bekannteste Gegenmodell das der Bundesrepublik. Der Bundesrat setzt sich bekanntlich aus weisungsgebundenen Vertretern der Landesregierungen zusammen und ihre Stimmkraft umfasst je nach Bevölkerungszahl der Länder
3 – 6 Blockstimmen(Art. 51 GG).
Auch bezüglich der Kompetenzen der Zweiten Kammern bestehen international grosse Unterschiede. So sind in den USA und der Schweiz die beiden Kammern grundsätzlich gleich berechtigt. Demgegenüber werden in Deutschland die Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat hat jedoch für die sog. zustimmungsbedürftigen Gesetze ein absolutes und für die übrigen ein suspensives Vetorecht. Vor der jüngsten Föderalismusreform(2006) sog. Phase I machten die zustimmungsbedürftigen Gesetze rund 60 % aus und wurden nun auf rund 40 % reduziert.
Kritik wird in den betreffenden Ländern beiden Modellen gegenüber geäussert. Während in der Schweiz vor allem ungenügende Vertretung der kantonalen Interessen beklagt wird, kritisiert man in Deutschland vor allem legislatorische Blockaden durch den Bundesrat. Ein weltweites föderalistisches Problem scheint zu sein, dass Parteiinteressen auch in Zweiten Kammern immer mehr die Vertretung der Interessen der Gliedstaaten in den Hintergrund drängen.
Angesichts dieser Lage scheint mir die Schweiz aus internationaler Sicht mit dem Ständerat, jetzt kraftvoll ergänzt durch die Konferenz der Kantonsregierungen, bezüglich des notwendigen Gleichgewichts zwischen Bund und Kantonen gut gefahren zu sein.
Es wäre verlockend, auch die übrigen Institutionen des kooperativen Föderalismus der Schweiz (Mitwirkung in der Aussenpolitik, fakultatives Kantonsreferendum, Standesinitiative, Vernehmlassungsverfahren, KdK und Direktorenkonferenzen, Tripartite Agglomerationskonferenz, Konkordate, Regionalkonferenzen der Kantone) aus internationaler Sicht zu betrachten. Die verfügbare Zeit verbietet
das hier, aber schon die Aufzählung zeigt, wie stark der vertikale und horizontale kooperative Föderalismus in unserm Land entwickelt ist.
Zusammenfassend lässt sich daher festhalten: Aus internationaler Sicht fällt der schweizerische Föderalismus zunächst durch die ausserordentliche Stabilität und Kontinuität auf. Die Grundpfeiler der föderalen Struktur der Schweiz (subsidiäre Generalkompetenz und Organisationsautonomie der Kantone, Ständemehr, Ständerat, Gleichheit der Kantone) sind seit 1848 unverändert geblieben. Die über 160 Verfassungsänderungen zwischen 1874 und 2000, wovon die meisten das Verhältnis Bund – Kantone betrafen, zeigen aber auch die grosse Anpassungsfähigkeit unseres Bundesstaates an neue Herausforderungen. Ein kritischer Punkt ist im internationalen Vergleich sicher die kleinräumige und von der Grösse der Gliedstaaten her sehr unterschiedliche territoriale Organisation. Andere alte Bundesstaaten wie die USA und Kanada weisen zwar, was die Grössenverhältnisse der Gliedstaaten untereinander anbelangt, durchaus vergleichbare Verhältnisse aus, aber bevölkerungsmässig und territorial in einer anderen Grössenordnung. Schliesslich hat die Schweiz in neuerer Zeit mit der Gründung der KdK, der neuen Bundesverfassung, dem Neuen Finanzausgleich und dem erfolgreichen ersten Kantonsreferendum eine Renaissance des Föderalismus erlebt, wie sie andernorts (beispielsweise in Deutschland) zwar auch feststellbar ist, aber nicht in diesem Umfang.
Das Föderalismus-Ranking von Ron Watts
Im Zeitalter der internationalen Rankings interessiert natürlich die Frage, wie der Bundesstaat Schweiz im internationalen Vergleich abschneidet. Der weltweit bekannte Föderalismus-Komparatist Ron Watts, ein Kanadier, der die meisten Bundesstaaten nicht nur in den Büchern (law in the books) studiert, sondern auch vor Ort (law in practice) beobachtet hat, wagt in der eben erschienen dritten Auflage seines Buches „Comparing Federal Systems“ ein solches Ranking, nicht ohne vorher auf die Problematik eines solchen Versuchs hinzuweisen. Er kommt dabei zu folgenden Schlussfolgerungen: Vor allem hinsichtlich der Finanzautonomie seien Kanada und die Schweiz die am stärksten dezentralisierten Bundesstaaten. Beziehe man alle relevanten Beurteilungskriterien ein, so komme er in absteigender Linie zu folgender Reihenfolge: Am stärksten zentralisiert seien Venezuela, Pakistan, Malaysia, Nigeria, Argentinien, Mexico und Russland, relativ zentralisiert Brasilien, Oesterreich und Australien, gemässigt zentralisiert Deutschland, Spanien, die USA und Indien, am meisten dezentralisiert Belgien, Kanada und die Schweiz.
Ich möchte meine Ausführungen zum schweizerischen Föderalismus aus internationaler Sicht- weil ich selber irgendwie auch Partei bin – gerne mit der Würdigung eines eminenten ausländischen Experten schliessen. Ron Watts hat mir auf Anfrage geschrieben:
„ To me, the outstanding impact of Switzerland as a federation on the world scene, is not so much its particular institutions, some of which
are unique to Swiss circumstances, as the prevailing federal political culture and spirit of power-sharing and cherishing of diversity which prevails throughout, and in this respect provides a shining example to federations elsewhere in the world.”